Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
ging das Gerücht um, dass alle Juden, die sich freiwillig zur französischen Armee gemeldet hatten, aus ihren Bataillonen entfernt und in Lagern interniert wurden, um sie von dort in den Osten zu deportieren.
Polaner. Andras sagte seinen Namen laut in die feuchte, nach Heu duftende Luft des Schlafsaals. Seine Augen brannten. Hier saß er, Tausende von Meilen entfernt, hilflos; er konnte nichts daran ändern, niemand konnte irgendetwas tun. Hitler hatte sich von Polen bereits das genommen, was er wollte. Er hatte Luxemburg und Belgien und die Niederlande, er hatte die Tschechoslowakei, er hatte Italien als Mitglied des Dreimächtepakts; Ungarn war sein Verbündeter, und jetzt hatte er auch noch Frankreich. Er würde den Krieg gewinnen, und was geschähe dann mit den Juden in den eroberten Ländern? Würde er sie zum Auswandern zwingen, sie in irgendein gottverlassenes Sumpfland umsiedeln? Es war unmöglich, sich auszumalen, was passieren würde.
Andras ging hinaus in den mondbeschienenen Hof, um Klaras Brief zu lesen. Es war eine schwüle Nacht; Nebel hing über dem Sammelplatz, dessen Gras durch den Juniregen struppig geworden war. Der am Scheunentor postierte Soldat tippte sich grüßend an die Mütze. Inzwischen kannten sich alle, und keiner glaubte so recht, dass jemand versuchen würde zu desertieren. Man konnte eh nirgends hin, hier in der Karpatenukraine. Bald würden sowieso alle den ersten Heimaturlaub bekommen – freie Fahrt bis Budapest. Andras setzte sich auf einen großen Stein am Rande des Sammelplatzes, wo das weiße Mondlicht hell durch einige zerknüllte Wolkentaschentücher fiel.
Mein lieber Andráska,
Frankreich ist gefallen. Ich kann es kaum glauben, während ich es schreibe. Es ist eine Tragödie, ein Gräuel. Die Welt hat den Verstand verloren. Frau Apfel schreibt, dass ganz Paris in den Süden geflohen ist. Ich kann wirklich von Glück sagen, jetzt hier in Ungarn zu leben und nicht in Frankreich unter der Nazi-Flagge.
Ich war dankbar für Deinen Brief vom 15. Mai. Welch große Erleichterung ist es zu wissen, dass es Dir gut geht und Du gesund durch den Winter gekommen bist. Jetzt sind es nur noch wenige Monate, bis Du wieder hier sein wirst. Bis dahin sei versichert, dass es mir gut geht – so gut, wie es mir ohne Dich eben gehen kann. Ich habe jetzt fünfundzwanzig Schülerinnen. Alles begabte Kinder, alles Juden. Was wird aus ihnen werden, Andras? Ich rede natürlich nicht von meinen Ängsten; wir üben, und sie werden immer besser.
Mutter geht es gut. György und Elza auch. József geht es ebenfalls gut. Deinen Brüdern geht es gut. Uns allen geht es gut! Das muss man in Briefen schließlich schreiben. Aber Du weißt doch, wie wir sind, mein Liebster: Wir sind voller Sorgen. Unser Leben wird von Unsicherheit überschattet. Du bist immer in meinen Gedanken: Zumindest das ist sicher. Die Tage können nicht schnell genug vergehen, bis ich Dich endlich wiedersehe.
Voller Liebe,
Deine K.
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27.
Die Schneegans
DEN GANZEN SOMMER ÜBER hielt er sich mit dem Gedanken aufrecht, dass er bald bei ihr sein würde – nah genug, um sie zu berühren, zu riechen und zu schmecken, und frei, den ganzen Tag mit ihr im Bett zu liegen, ihr alles zu erzählen, was in den langen Monaten seiner Abwesenheit geschehen war, und zu hören, was ihr in der Zeit durch den Kopf gegangen war. Er stellte sich vor, seine Mutter und seinen Vater zu besuchen, Klara zum ersten Mal mitzunehmen zum Haus in Konyár, mit seinen Eltern und seiner Frau durch den Apfelgarten und über das flache Weideland zu spazieren. Auch malte er sich aus, Tibor zu sehen, dem es bisher nicht gelungen war, sein Studentenvisum zu erneuern, und der jetzt mit Ilana in Ungarn gestrandet war. Doch als Andras’ verschobener Heimaturlaub im August fällig wurde, bekam Ungarn von Deutschland ein weiteres Geschenk: das nördliche Siebenbürgen, jener weiße Granitrücken zwischen dem zivilisierten Westen und dem wilden Osten, Europas natürlicher Schutzwall vor dem gewaltigen kommunistischen Nachbarn. Horthy wollte das Gebiet, selbst zum Preis einer engeren Freundschaft mit Deutschland; Hitler gab es ihm, und bereits im Herbst würde diese erkaufte Freundschaft durch Ungarns Eintritt in den Dreimächtepakt besiegelt werden. Da die 112/30 ihren Straßenbauauftrag in den Waldkarpaten vor Fristende erfüllt hatte, wurde sie in Eisenbahnwaggons nach Transsilvanien befördert. Dort, im Urwald zwischen Mármaros-Sziget und Borsa, machte sich
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