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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Armee produzierte. Seit Monaten rüstete sich Ungarn nun für den Krieg, bereitete sich darauf vor, eventuell an der Seite von Deutschland in die Auseinandersetzung einzugreifen. Wenn Glücks-Béla eine Wahl gehabt hätte, wäre er natürlich lieber in einer kleineren Firma angestellt gewesen, deren Produkte zu friedlichen Zwecken verwendet wurden. Doch er wusste, wie viel Glück er hatte, überhaupt Arbeit zu haben, wo doch so viele Juden eine Stelle suchten. Und wenn Ungarn wirklich in den Krieg eintrat, würden selbst die kleineren Holzfirmen für den Staat arbeiten müssen. Daher hatte Béla den Posten eines zweiten stellvertretenden Vorarbeiters angenommen, als der bisherige zweite stellvertretende Vorarbeiter im vergangenen Winter an einer Lungenentzündung gestorben war. Der erste stellvertretende Vorarbeiter, ein Schulfreund von Béla, hatte ihm die Arbeit als vorübergehende Hilfe angeboten, um Béla über die mageren Wintermonate zu helfen. Zwei Monate hatte er in Debrecen gewohnt und war am Wochenende nach Hause gefahren. Die Verantwortung für sein eigenes Werk hatte er wiederum seinem Vorarbeiter übertragen. Als der Schulfreund ihm die Dauerstellung angeboten hatte, beschlossen Béla und Flóra, dass die Zeit gekommen war, ihren kleinen Betrieb zu verkaufen. Schließlich wurden sie nicht jünger. Die Arbeit war schwerer geworden, die Schulden größer. Mit dem Erlös des Verkaufs konnten sie ihre Schuldner auszahlen und eine kleine Wohnung in Debrecen mieten.
    Es war ihr Pech, dass der einzige Interessent ein Mitglied der Pfeilkreuzler gewesen war, der nationalsozialistischen Partei Ungarns, und dass das Angebot dieses Mannes nur halb so hoch war wie der Wert des Sägewerks. Belá hatte keine andere Wahl gehabt. Es war ein harter Winter gewesen. Sie hatten kaum genug zu essen, und einen ganzen Monat lang waren keine Züge nach Konyár gefahren. Irgendwo waren Gleise kaputt, die zu reparieren sich niemand veranlasst sah. Viele normale Abläufe – die Postzustellung, die Vorratshaltung, der Abtransport geschnittenen Holzes – waren gänzlich zum Erliegen gekommen. In Debrecen gab es keine Knappheit an Lebensmitteln, kein Bummeln im Werk. Béla bekam das Doppelte dessen, was er sich selbst im Sägewerk auszahlen konnte. Es war ein Jammer, dass er zu diesem Preis hatte verkaufen müssen, doch der Umzug tat ihnen bereits gut – Flóra hatte wieder an Gewicht zugenommen, was sie im langen Hungerwinter verloren hatte, und Bélas Husten und Rheuma waren abgeklungen. Mit lauter Stimme und kräftigem Schritt marschierte er mit Andras durch das Sägewerk und berichtete ihm, wie alles gekommen war.
    »Was wir jetzt brauchen, du und ich«, schloss er und hängte seinen Schutzhelm in den Umkleideraum der Vorarbeiter, »ist ein schönes kaltes Glas Bier.«
    »Da wäre ich dumm zu widersprechen«, sagte Andras, und sie machten sich auf zur angestammten Bierschenke seines Vaters, ein höhlenartiges Lokal unweit der Rózsa utca, an dessen Wänden Geweihe und ausgestopfte Wolfsköpfe hingen. Ein riesiges altmodisches Bierfass stand auf einem Holzbock. An den Tischen rauchten Männer Fox-Zigaretten und diskutierten über das Schicksal Europas. Der Wirt war ein schnauzbärtiger Riese, der aussah, als würde er sich nur von Alkohol und Fettgebackenem ernähren.
    »Wie ist das Bier heute, Rudolf?«, fragte Andras’ Vater.
    Rudolf grinste ihn mit seinen kleinen Zähnen an. »Macht betrunken«, sagte er.
    Das schien ein Spiel zwischen den beiden zu sein. Der Wirt füllte zwei Gläser und goss sich selbst ein Glas Schnaps ein, dann tranken sie auf ihre Gesundheit.
    »Wer ist das schmale Handtuch?«, fragte Rudolf.
    »Mein mittlerer Sohn, der Architekt.«
    »Architekt, hm?« Rudolf hob eine Augenbraue. »Irgendwas hier gebaut?«
    »Noch nicht«, sagte Andras.
    »Militärdienst?«
    »Munkaszolgálat.«
    »Da lassen sie dich also hungern?«
    »Ja.«
    »Ich war Husar im Großen Krieg, wie dein Vater. An der serbischen Front. Habe in Varaždin fast ein Bein verloren. Aber Arbeitsdienst, also, das ist eine andere Geschichte. Den ganzen Tag im Dreck rumgraben, ohne dass was passiert, keine Lorbeeren zu verdienen, und obendrein noch eine Hungerkur.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist nichts für einen klugen Kerl wie dich. Wie lange musst du noch?«
    »Sechs Monate«, sagte Andras.
    »Sechs Monate! Das ist nicht mehr viel. Und die ganze Zeit gutes Wetter. Das schaffst du schon. Aber trinkt noch einen auf mich, für alle Fälle.

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