Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
choreografierten Schritte vortanzte. Wenn er nach Hause käme, schrieb er, würde er so schnell steppen können, dass man eine neue Art von Musik erfinden müsse, um mit ihm mitzuhalten.
Tibor, erzählte Andras’ Mutter, sei im November zu einem Arbeitsdienstbataillon in Transsilvanien gestoßen, sein Grundstudium in Modena hatte ihm die Stelle des Kompaniearztes beschert. In seinen Briefen stände nicht viel Neues über seine Arbeit – Andras’ Mutter nahm an, er wolle sie nicht ängstigen –, doch er schrieb immer, was er gerade las. Im Moment sei es Miklós Radnóti, ein junger jüdischer Dichter aus Budapest, der im vergangenen Herbst zum Arbeitsdienst eingezogen worden war. Wie Andras hatte auch Radnóti eine Zeit lang in Paris gelebt. Einige seiner Gedichte – eines über ein Treffen mit einem japanischen Arzt auf der Terrasse der Rotonde, ein anderes über träge Nachmittage im Jardin du Luxembourg – versetzten Tibor in die Zeit zurück, die er bei seinem Bruder verbracht hatte. Es ging das Gerücht, Radnótis Bataillon sei nicht weit entfernt von Tibors stationiert; der Gedanke hatte Tibor geholfen, den Winter zu überstehen.
Es erschien Andras ein surrealer, unverdienter Luxus zu sein, in der Küche dieser sauberen, sonnigen Wohnung zu sitzen und zuzuhören, wie seine Mutter von Mátyás und Tibor und ihrer Zeit beim Arbeitsdienst berichtete. Wie konnte er sich nur in diesen vertrauten Stuhl sinken lassen, wie konnte er mit Klara und Mendel Äpfel essen und dem Meckern der weißen Ziegen im Hof lauschen, während seine Brüder in Kárpátalja Brücken bauten oder kranke Männer in Transsilvanien behandelten? Es war furchtbar, diese süße Schläfrigkeit zu spüren, furchtbar, sich auf ein Nachmittagsnickerchen im Bett seiner Kindheit zu freuen, falls sie es denn von Konyár mitgenommen hatten. Selbst der Tisch vor ihm – der kleine gelbe aus der Sommerküche – versetzte ihm einen Stich heimatloser Sehnsucht, als sei Andras das Medium für das Heimweh seines Bruders geworden. Dieser kleine Tisch, den sein Vater vor Andras’ Geburt gezimmert hatte: Andras wusste noch, wie er an einem heißen Tag darunter gehockt hatte, während seine Mutter Erbsen fürs Essen palte. Der kleine Andras aß eine Handvoll Erbsen und sah dabei zu, wie eine Raupe an einem Tischbein emporkroch. Selbst jetzt hatte er die Raupe vor Augen, dieses kleine Stück beweglichen Grüns mit den winzigen kurzen Beinen, das sich in Richtung Tischplatte streckte und wieder zusammenzog, auf einer Mission, deren Sinn ein Rätsel blieb. Es ging ums pure Überleben, verstand er nun, mehr nicht. Dieses Recken und Schrumpfen, das hektische Umschauen: all das diente nur der schlichten Aufgabe, am Leben zu bleiben.
»Woran denkst du?«, fragte seine Mutter und drückte Andras’ Hand.
»An die Sommerküche.«
Sie lachte. »Du hast den Tisch wiedererkannt.«
»Natürlich.«
»Andras leistete mir immer Gesellschaft, wenn ich backte«, erklärte seine Mutter Klara. »Er malte mit einem Stock auf den sandigen Boden. Den Rest der Küche habe ich jeden Tag gefegt, aber seine Zeichnungen habe ich stehen lassen.«
Sie hörten einen leisen tiefen Atemzug von Mendel; er hatte nicht auf einen bequemen Platz zum Schlafen gewartet, sondern war am Küchentisch eingenickt, den Kopf auf die Arme gebettet. Andras zog ihn sanft hoch, führte ihn zum Sofa und deckte ihn mit einer Steppdecke zu. Mendel wachte nicht auf, weder bei dem Gang durchs Zimmer noch als er seine Glieder aufs Sofa bettete. Das war sein ganz besonderes Talent. Manchmal schlief er auf dem gesamten Weg, den sie morgens zum Arbeitseinsatz marschierten.
»Willst du auch schlafen?«, fragte Klara Andras. »Ich helfe deiner Mutter.«
Doch der klare, scharfe Geschmack der Äpfel hatte ihn geweckt; jetzt war ihm nicht nach Schlafen zumute. Was er jetzt wollte, was er keine weitere Minute abwarten konnte, war die Begegnung mit seinem Vater.
Es war herbe ungarische Ironie, dass sein Vater Arbeit als Holzfräser gefunden hatte – möglicherweise bearbeitete er genau das Holz, das Andras in den Wäldern in Transsilvanien und Kárpátalja geschlagen hatte. Die Vereinigten Holzwerke Debrecen hatten nichts mit dem Sägewerk gemein, das Glücks-Béla dem hasserfüllten jungen Mann in Konyár verkauft hatte. Es handelte sich um eine staatliche Fabrik großen Maßstabs, die täglich Hunderte von Bäumen verarbeitete und Tausende Klafter Holz zum Bau von Baracken, Lagerhäusern und Bahnhöfen der
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