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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Arbeitsmann?«, schrie Major Barna so laut, dass es auch die Männer in der letzten Reihe mitbekamen.
    Von so etwas hatte Andras noch nie gehört. Er hatte nicht gewusst, dass es möglich war, seines Dienstgrads enthoben zu werden, ohne eines Verbrechens verurteilt worden zu sein. In einem Anfall von Wagemut richtete er sich zu seiner vollen Größe auf – gute fünfzehn Zentimeter größer als Barna – und rief: »Gruppenführer, Herr Major!«
    Blitzschnell schlug Barna zu, und an Andras’ Hinterkopf explodierte der Schmerz. Er fiel auf Hände und Knie in den Schlamm.
    »Nicht in Bánhida«, schrie Major Barna. In seiner bebenden Hand hielt er einen Gehstock aus weißer Buche, der mit Andras’ Blut besprüht war. Trotz der Schmerzen hätte Andras beinahe gelacht. Es kam ihm alles so absurd vor. Hatte er nicht gerade noch Äpfel in der Küche seiner Mutter gegessen? Hatte er nicht gerade noch mit seiner Frau geschlafen? Er tastete mit der Hand am Hinterkopf: warmes Blut, eine schmerzende Beule.
    »Auf die Füße, Arbeitsmann!«, rief der Major. »Zurück ins Glied!«
    Andras hatte keine Wahl. Er gehorchte ohne ein weiteres Wort.
    Andras’ Begrüßung in Bánhida war nur ein Vorgeschmack dessen, was ihn erwartete. Während des kurzen Heimurlaubs hatte sich etwas verändert, oder vielleicht war es in der 101/18 auch einfach anders. Es gab auf gar keiner Ebene mehr jüdische Offiziere, keine jüdischen Ärzte, Ingenieure oder Vorarbeiter. Die Wachleute waren grausamer und jähzorniger, die Offiziere straften schneller. Bánhida war ein hässlicher Ort. Alles dort schien dazu geschaffen, das Unbehagen oder das Unglück seiner Bewohner zu vergrößern. Tag und Nacht stieß das Kraftwerk seine drei großen Wolken braunen Kohlequalms in den Himmel; die Luft roch nach Schwefel, und alles war mit einer feinen orangebraunen Staubschicht überzogen, die bei Regen zu einer kreidigen Paste wurde. Die Baracken stanken nach Schimmel, die Fenster ließen Hitze, aber nur wenig Licht und Luft herein, und vom Dach leckte es auf die Betten. Die Wege und Straßen waren offenbar so angelegt, dass sie durch die feuchtesten Bereiche des Lagers führten. Jeden Nachmittag pünktlich um drei gab es einen Regenschauer, der alles in einen tückischen, schlickigen Sumpf verwandelte. Eine feuchtwarme Brise trug den Gestank der Latrinen durchs Lager, was derart penetrant war, dass sie beim Arbeiten regelmäßig würgen mussten. In den Pfützen gediehen Mücken, die sich auf die Männer stürzten, sich auf Stirn, Hals und Armen sammelten. Noch schlimmer jedoch waren die Stechfliegen; ihre Stiche hinterließen riesige rote Flatschen, die nur langsam abheilten.
    Andras und Mendel hatten die Aufgabe, Kohle in Karren zu schaufeln und diese dann über rostige Gleise zum Kraftwerk zu schieben. Die Schienen waren wackelig und nicht im Boden verankert. Der Grund dafür wurde bald offensichtlich: Wenn es stärker regnete, mussten die Gleise hochgenommen und um Pfützen von der Größe kleiner Teiche herumgeführt werden. Wenn es keine Möglichkeit gab, den Pfützen auszuweichen, musste Holzbalken hineingelegt werden, auf die wiederum die Schienen gebettet wurden. Voll beladen wogen die Karren Hunderte von Kilogramm. Die Männer zogen und schoben und stießen sie an, und wenn sie sich trotzdem nicht bewegen wollten, fluchten sie und schlugen mit ihren Schaufeln darauf. Jede Lore war mit den weißen Buchstaben KMOF beschriftet, die Abkürzung von Közérdekű Munkaszolgálat Országoz Felügyelője – Nationale Verwaltung des Arbeitsdienstes –, doch Mendel behauptete, die Buchstaben ständen für Királyi Marhák Ostobasági Földbirtoka, die Königliche Idiotenzuchtanstalt.
    Es gab Dinge, für die man dankbar sein musste. Es wäre schlimmer gewesen, wenn sie im Kraftwerk selbst hätten arbeiten müssen, wo Kohlenstaub und chemische Dämpfe die Luft in ein zähes, beißendes Gemisch verwandelten, das man kaum atmen konnte. Es wäre schlimmer gewesen, wenn sie hinunter in die Mine geschickt worden wären. Es wäre schlimmer gewesen, wenn sie ohne den anderen dort gewesen wären. Und es wäre schlimmer gewesen, Hunderte Kilometer entfernt von Budapest zu sein, beispielsweise in der Karpatenukraine oder Transsilvanien. In Bánhida kam die Post rasch an. Die Briefe von Andras’ Eltern brauchten zwei Wochen, die von Klara nur eine. Einmal fügte sie ein Schreiben von Rosen bei, fünf Seiten in einer großen, schwungvollen Schrift aus dem fernen Palästina:

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