Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
enthaltenen Nachrichten längst überholt waren. Dennoch gab es Ereignisse von derart großer Tragweite, dass sie kurz nach ihrem Eintreten auch den Männern bekannt wurden. In der dritten Juniwoche, knapp ein Jahr nach dem Fall Frankreichs, marschierten Hitlers Divisionen auf einer zwölfhundert Kilometer langen Front in die Sowjetunion ein, die sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Der Kreml schien über die Wendung der Ereignisse ebenso bestürzt wie die Männer im Lager Bánhida. Offenbar hatte Moskau geglaubt, Deutschland halte sich an den Nichtangriffspakt. Doch Mendel wies darauf hin, dass Hitler den Angriff monatelang vorbereitet haben musste. Wie hätte er sonst Hunderttausende von Soldaten, so viele Flugzeuge, so viele Panzer aufbieten können? Keine Woche später erfuhren Andras und Mendel vom Postmeister des Lagers, dass sowjetische Flugzeuge – oder was man anfangs für sowjetische Flugzeuge hielt, genauso gut konnten es getarnte deutsche Flugzeuge sein – die ungarische Grenzstadt Kassa bombardiert hätten. Die Botschaft war eindeutig: Ungarn blieb keine andere Wahl, als seine Armeen nach Russland zu schicken. Wenn Premierminister Bárdossy sich weigerte, würde Ungarn alle Gebiete verlieren, die Deutschland ihm überlassen hatte. Und wirklich schien Bárdossy nun den Kriegseintritt Ungarns als unvermeidlich anzusehen, obgleich er lange dagegen gewesen war. Bald verkündeten die Titelblätter die Kriegserklärung gegen die Sowjetunion, und ungarische Armeeeinheiten machten sich auf den Weg, die Invasion der Achsenmächte zu unterstützen. Die Männer der 101/18 wussten, was das bedeutete: Für jede ungarische Einheit an der Front wurde eine Arbeitsdiensteinheit zur Unterstützung mitgeschickt.
Niemand konnte sagen, wie lange der Krieg dauern mochte oder was von den Zwangsarbeitern verlangt werden würde. In den Baracken machten Gerüchte die Runde, dass sie als menschliche Schutzschilde eingesetzt oder als Erste in die Schusslinie geschickt würden, um das feindliche Feuer auf sich zu ziehen. Doch in Bánhida änderte sich zuerst einmal nichts; die Kohle kam aus dem Boden, die Männer luden sie auf Loren, das Kraftwerk verbrannte sie, der schwefelige Staub stieg in die Luft. Als der Schlamm im Juli trocknete und die Insekten verschwanden, erhöhte die Lagerleitung den Produktionssoll, als würde nun mehr Kraft gebraucht, um die Motoren des Krieges zu betanken. Die Hitze war so immens, dass sich die Männer mittags bis auf die Unterwäsche auszogen. Es gab keine Bäume, die Schutz vor der Sonne boten, kein Schwimmteich, der ihre verbrannte Haut gekühlt hätte. Andras wusste, dass es in nicht allzu großer Entfernung, in der Stadt, die sie auf dem Weg zum Lager passiert hatten, Himbeerlimonade gab, und an den heißesten Tagen glaubte er, er könne seine Lore einfach stehen lassen – zur Hölle mit den Folgen – und so lange laufen, bis er den kühlen Wald aus Sonnenschirmen vor einem Straßencafé erreichte. Er sah schimmernde Trugbilder von Wasser neben den Gleisen, manchmal trieb das Lager in seiner gesamten Ausdehnung auf einem glitzernden silbrigschwarzen Meer. Wie lange war es her, dass Andras das richtige Meer mit seiner aquamarinblauen Dünung und den eisig weißen Schaumkronen gesehen hatte? Er konnte es direkt hinter dem Maschendrahtzaun erkennen, wenn er den Kohlekarren schob: das Mittelmeer, ein gehämmertes Kupferblau, das sich bis zu den unvorstellbaren Gestaden Afrikas erstreckte. Da war Klara in ihrem schwarzen Badeanzug und der weißen Badekappe mit den Rennstreifen, sie stieg in den Schaum am Ufer; Klara, bis zu den Oberschenkeln eingetaucht, Klara, die von einem hölzernen Turm aus einen Kunstsprung à la Odette vollführte.
Und dann stand der Vorarbeiter neben Andras und schrie seine Befehle. Die Kohle musste geschaufelt, die Karren geschoben werden, weil irgendwo im Osten ein Krieg geführt wurde.
Die umwerfendste Nachricht seines Lebens erreichte Andras an einem ruhigen, heißen Juliabend, einen Monat nach Ungarns Kriegseintritt, in der toten Stunde zwischen Arbeit und Essen auf der Treppe vor der Baracke 21. Mit zwei seiner Barackenkameraden, einem schlaksigen rothaarigen Zwillingspaar aus Sopron, war er nach der Arbeit zum Büro gegangen, um Briefe oder Pakete abzuholen. Die Männer hatten Blasen vor Sonnenbrand, ihre Augen waren geblendet von der Helligkeit des Tages; der Staub lag als dünner, rissiger Film auf ihrer Haut. Wie immer war vor der Postausgabe
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