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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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eine elendig lange Schlange. Die Post wurde vom Postmeister und seinen Mitarbeitern inspiziert, was bedeutete, dass jedes Päckchen geöffnet, begutachtet und etwaig vorhandener Nahrung oder Zigaretten und allen Geldes beraubt werden musste, ehe der Empfänger das, was übrig blieb, in Empfang nehmen konnte. Die Zwillinge aus Sopron schmunzelten beim Warten über die jüngste Ausgabe der Stechfliege . Andras’ Kopf war vor Hitze wie in Watte gepackt; er konnte sich kaum daran erinnern, die Zeitung illustriert zu haben. Er schraubte den Verschluss von seiner Feldflasche und trank die letzten Wassertröpfchen. Wenn sie noch viel länger in dieser Schlange warteten, hätten sie keine Zeit mehr, sich vor dem Essen zu waschen. Hatte er Klara gebeten, ihm Rasierseife zu schicken? Er stellte sich einen blütenweißen, duftenden Riegel vor, in Wachspapier gewickelt, das mit dem Bild eines Mädchens in einem altmodischen Badekostüm bedruckt war. Oder vielleicht käme auch etwas anderes, etwas weniger Notwendiges, das jedoch genauso gut wäre: eine Schachtel mit Veilchenpastillen vielleicht oder ein neues Foto von Klara.
    Als sie schließlich vor dem Schalter standen, drückte der Postbeamte zwei identische Päckchen in die Hände der Zwillinge. Jedes war wie immer geöffnet und untersucht worden, und die leeren Einwickelpapiere von vier Schokoladenriegeln lagen im Karton wie blanker Hohn. Doch an jenem Tag musste es in der Post einen Überschuss an Süßwaren gegeben haben: In beiden Päckchen waren noch identische Dosen mit Zimtrugelach. Miku und Samu waren großzügige Jungen und bewunderten Andras für seine Rolle als Macher der Stechfliege ; sie warteten auf ihn, während er einen einzelnen dünnen Brief von Klara in Empfang nahm, und auf dem Rückweg zu den Baracken teilten sie ihre Geschenke mit ihm. Trotz des tröstlichen Zimt und Zuckers war Andras ungewollt enttäuscht über seinen mageren Umschlag. Ihm fehlten Rasierseife, Vitamine und hundert andere Dinge. Seine Frau hätte doch an seine Bedürfnisse denken und wenigstens ein kleines Päckchen schicken können. Während die Zwillinge in die Baracke gingen, setzte Andras sich auf die Stufen davor und öffnete den Brief mit seinem Taschenmesser.
    Von der anderen Seite des Hofes aus sah Mendel Horovitz Andras mit einem Brief in den Händen auf den Stufen sitzen. Er eilte hinüber, wollte seinen Freund noch erreichen, bevor der zu den Waschbecken ging, um sich fürs Essen zu säubern. Mendel war gerade von der Ausgabestelle zurück, wo ihm der Angestellte erlaubt hatte, die Schreibmaschine zu benutzen; in nur fünfundvierzig Minuten war es ihm gelungen, sämtliche sechs Seiten der neuen Stechfliege zu tippen. Er meinte, es sei noch genug Zeit für Andras, am selben Abend mit den Illustrationen anzufangen. Er pfiff eine Melodie aus Tin Pan Alley , dem Film, den er auf seinem Heimaturlaub in Budapest gesehen hatte. Doch als er vor den Stufen zur Baracke stand, verstummte er. Andras hatte den Blick zu Mendel erhoben, der Brief zitterte in seiner Hand.
    »Was ist denn, Parisi?«, fragte Mendel.
    Andras konnte nicht sprechen; er glaubte, nie wieder sprechen zu können. Vielleicht hatte er nicht richtig verstanden. Er schaute wieder in den Brief, und da waren die Worte in Klaras säuberlicher schräger Schrift.
    Sie war schwanger. Er, Andras Lévi, würde Vater werden.
    Was machte es jetzt, wie viele Tonnen Kohle er schaufeln musste? Wen interessierte es, wie oft der Karren von den wackligen Schienen sprang, wie oft seine Blasen aufgingen und bluteten, wie brutal die Wachen ihn misshandelten? Wen störte es, wie hungrig oder durstig er war, wie wenig Schlaf er bekam oder wie lange er auf dem Hof strammstehen musste? Was kümmerte er sich um seinen eigenen Körper? Fünfzig Kilometer entfernt, in Budapest, war Klara mit seinem Kind schwanger. Jetzt war nur noch wichtig, dass er die Monate bis zu dem Datum überlebte, das sie in ihrem Brief angegeben hatte: der 29. Dezember. Bis dahin hätte er seine zwei Jahre Militärdienst abgeleistet. Der Krieg mochte sogar vorbei sein, je nach Verlauf von Hitlers Feldzug in Russland. Wer wusste schon, wie das Leben für Juden in Ungarn dann aussehen würde, doch wenn Horthy immer noch an der Regierung wäre, mochte es durchaus möglich sein, dort zu leben. Oder sie würden nach Amerika auswandern, in die schmutzige, schillernde Stadt New York. An dem Tag, als Andras Klaras Brief erhielt, zeichnete er einen Kalender auf die Rückseite

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