Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Asche legte. Béla wusste, was dahintersteckte: Hitler bestrafte Jugoslawien für den Militärputsch und den Volksaufstand, den der Beitritt zum Dreimächtepakt ausgelöst hatte. Es war keine Woche her, dass Deutschland sich verpflichtet hatte, die jugoslawische Grenze tausend Jahre lang anzuerkennen; jetzt hatte Hitler seine Armeen dagegenstürmen lassen. Die Invasion hatte am Nachmittag begonnen. Ungarische Soldaten sollten im Verlauf der Woche nach Belgrad geschickt werden, um die deutsche Armee zu unterstützen. Es wäre die erste militärische Aktion Ungarns im europäischen Konflikt. Für Béla war klar, dass dies nur der Anfang war, dass Ungarn nicht verhindern konnte, tiefer in den Krieg gezogen zu werden. Tausende junger Männer würden ihr Leben verlieren. Seine Kinder würden zum Arbeitsdienst an die Front geschickt werden. Er hatte die Nachrichten vernommen und sie verarbeitet, doch als Andras und Mendel ihn abholten, hatte er sie den Jungen vorenthalten. Auch jetzt würde er nichts sagen, an diesem heiligen Tisch. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Meldung alles zerstören würde, was seine Frau und seine Schwiegertochter geschaffen hatten. Er leitete den Seder wie immer, spürte das Fehlen seines jüngsten und seines ältesten Sohnes wie eine heftige Einschnürung in der Brust. Er erzählte die Geschichte des Exodus und ließ Mendel die vier Fragen stellen. Es gelang ihm, das vertraute Mahl zu essen, die gesottenen Eier mit Petersilie, den gefilte Fisch und die Matzeknödel in ihrer goldenen Brühe. Anschließend sang er den Segen, wie er es immer tat, und war dankbar für das vierte rituelle Glas Wein. Als er am Ende des Seder die Tür aufzog, um den Propheten Elias willkommen zu heißen, sah er geöffnete Türen rund um den Hof. Es war ein Trost für ihn zu wissen, dass er von anderen Juden umgeben war. Doch er konnte die Neuigkeiten nicht ewig von seiner Familie fernhalten. Aus dem Hof drangen die kratzenden Geräusche des nationalen Nachrichtensenders herauf; irgendjemand hatte unten ein Rundfunkgerät ins Fenster gestellt, damit die anderen mithören konnten. Ein Mann hielt mit ernster, aristokratischer Stimme eine Rede: Es war Miklós Horthy, ihr Regent, der das Land auf seine glorreiche Rolle innerhalb des neuen Europas einschwor. Béla konnte sehen, wie die Erkenntnis in das Gesicht seiner Frau sickerte, dann in das seines Sohnes. Jetzt war Ungarn mit im Spiel, unwiderruflich. Als sie sich auf dem Balkon versammelten, um der Übertragung zu lauschen, schob Béla die Tür noch ein paar Zentimeter weiter auf. Eliahu ha Navi , sang er leise vor sich hin. Eliahu ha Tishbi . Er stützte eine Hand im Türrahmen ab und rief den Namen des heiligen Mannes an; noch hatte er die Hoffnung auf eine andere Art von Prophezeiung nicht aufgegeben.
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29.
Arbeitslager Bánhida
ALS ANDRAS UND MENDEL SICH AM ENDE ihres Heimaturlaubs im Bataillonsbüro meldeten, erfuhren sie, dass sie nicht zur 112/30 nach Transsilvanien zurückkehren würden. Major Kálozi, erklärte ihnen der Bataillonssekretär, habe genug von ihnen. Stattdessen würden sie in Bánhida stationiert, fünfzig Kilometer nordwestlich von Budapest, wo sie zur Kompanie 101/18 in einer Kohlenzeche mit angeschlossenem Kraftwerk stoßen würden.
Fünfzig Kilometer entfernt von Budapest! Es wäre vielleicht möglich, Klara an einem Wochenende mit Heimaturlaub zu besuchen. Und die Post würde vielleicht keinen Monat brauchen. Mendel und Andras wurden zum Verladebahnhof geschickt, wo sie auf die zurückkehrenden Angehörigen ihrer neuen Kompanie warten sollten. Sie würden in Arbeitsgruppen eingeteilt und verschiedenen Waggons zugewiesen. Die nach Bánhida zurückkehrenden Männer schienen einen weniger harten Winter hinter sich zu haben als Andras und Mendel. Ihre Kleidung war unversehrt, ihre Körper wirkten kräftig. Zwischen ihnen herrschte eine joviale Gelassenheit, als seien sie Schulkameraden, die nach den Ferien zum Gimnázium zurückkehrten. Als der Zug gen Westen durch die wogenden grünen Hügel von Buda und dann ins bewaldete, bestellte Land dahinter rollte, erfüllte erdiger Frühlingsgeruch die Waggons. Doch die Gespräche der Arbeiter wurden leiser, je näher sie Bánhida kamen. Über ihren Blicken schien ein nüchterner Schatten zu liegen, auf ihren Schultern ein unsichtbares Gewicht. Vor den Fenstern war immer weniger Grün zu sehen, anfangs verdrängt von flachen, armseligen Behausungen, wie sie überall der
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