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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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zusammengekniffenen Augen und schaute dann auf die Zutaten, die Andras’ Mutter auf dem Tisch bereitgestellt hatte.
    »Aber wie viel davon?«, fragte sie Flóra. »Wo sind die Mengenangaben?«
    »Mach dir keine Gedanken darum«, sagte Andras’ Mutter. »Mach es einfach nach Gefühl.«
    Klara warf Andras ein panisches Lächeln zu.
    »Kann ich helfen?«, fragte Andras.
    »Ja, mein Schatz«, sagte Flóra. »Hol deinen Vater von der Arbeit. So wie ich ihn kenne, hat er vergessen, dass er heute früher nach Hause kommen soll.«
    »In Ordnung«, sagte Andras. »Aber vorher möchte ich noch kurz mit meiner Frau sprechen.« Er nahm ihr das Rezept ab und legte es vorsichtig in das Silberkästchen zurück; dann griff er nach Klaras Hand und zog sie in das kleine Nähzimmer. Er schloss die Tür. Klara schlug die Hände vors Gesicht und lachte.
    »Oh, Gott«, sagte sie. »Ich kann diese Matzeknödel nicht machen.«
    »Du kannst auch einfach aufgeben, das weißt du.«
    »Was für ein Rezept, dieses Rezept! Es könnte genauso gut in Geheimschrift verfasst sein!«
    »Vielleicht ist es verzaubert. Vielleicht sind die Mengen wirklich egal.«
    »Wenn Frau Apfel doch nur hier wäre. Oder Elisabet.« Ein Schleier der Trauer verdunkelte ihre Züge, so wie jedes Mal, wenn sie in den vergangenen zwei Wochen Elisabets Namen erwähnt hatte. Ihre Befürchtungen hatten sich bewahrheitet: Die Eltern von Paul, die auf einem Anwesen in Connecticut lebten, hatten nichts mit Elisabet zu tun haben wollen und jeden Kontakt zu ihrem Sohn abgebrochen. Unverzagt hatten Paul und Elisabet sich eine Wohnung in Manhattan genommen und waren arbeiten gegangen – Paul als Grafiker, Elisabet als Bäckerlehrling. Sie hatte sich selbst übertroffen und war zur stellvertretenden Chefkonditorin befördert worden; dass sie Französin war, verlieh ihr ein gewisses Ansehen, und vor wenigen Monaten hatte sie geschrieben, dass eine von ihr dekorierte Torte das Prunkstück einer großen Hochzeit im Ballsaal des Hotels Waldorf-Astoria gewesen sei. Die Mütter wohlhabender junger Damen kamen mit ihren Anfragen auf Elisabet zu. Doch jetzt war ein Kind unterwegs. Diese Nachricht hatte Klara mit dem letzten Brief erreicht, erst vor wenigen Wochen.
    »Klara«, sagte Andras und berührte ihre Hand. »Elisabet kommt zurecht, das weißt du.«
    Sie seufzte. »Es ist tröstlich, hier zu sein«, sagte sie. »Bei dir zu sein. Und Zeit mit deiner Mutter zu verbringen. Sie liebt ihre Kinder so, wie ich mein Mädchen liebe.«
    »Du musst mir sagen, was du gemacht hast«, sagte Andras. »Du hast sie verhext.«
    »Wovon redest du?«
    »Meine Mutter hat einen Narren an dir gefressen, davon rede ich.«
    Klara lehnte sich an die Wand und verschränkte die zierlichen Knöchel. »Ich habe sie ins Vertrauen gezogen«, sagte sie.
    »Was meinst du damit?«
    »Ich habe ihr die Wahrheit gesagt. Alles. Ich wollte, dass sie weiß, was mir als Mädchen passiert ist und wie ich seitdem gelebt habe. Ich war überzeugt, dass es etwas ändern würde.«
    »Und das hat es.«
    »Ja.«
    »Aber jetzt musst du Matzeknödel machen.«
    »Ich glaube, das ist eine Art Abschlussprüfung«, sagte Klara lächelnd.
    »Ich hoffe, du bestehst sie«, sagte Andras.
    »Du wirkst nicht sehr zuversichtlich.«
    »Natürlich bin ich zuversichtlich.«
    »Geh deinen Vater holen«, sagte Klara und schob ihn zur Tür.
    Als Andras und Mendel mit Glücks-Béla zurückkehrten, siedeten die Matzeknödel bereits in einem Topf auf dem Ofen. Der gefilte Fisch war fertig, der Tisch mit einem weißen Tuch gedeckt, die Teller und das Silberbesteck glänzten im Licht von zwei weißen Kerzen. In der Mitte der Tafel stand ein silberner Sederteller, den sie jedes Jahr verwendet hatten, solange Andras sich erinnern konnte, darauf in den sechs Silberschalen die Petersilie und das Bitterkraut, Salzwasser und Charosset, gesottene Eier und ein gebratener Knochen mit etwas Fleisch daran zur Erinnerung an das Opferlamm.
    Glücks-Béla stand neben seinem Stuhl am Kopfende des Tisches, verstummt von den Nachrichten, die er erhalten hatte, kurz bevor ihn die Jungen von der Arbeit abhielten. Im Vorarbeiterbüro hatte er sie im Rundfunk gehört: Horthy hatte Hitler erlaubt, von ungarischem Boden aus in Jugoslawien einzumarschieren – Jugoslawien, mit dem Ungarn ein Jahr zuvor den »Vertrag über ewige Freundschaft« unterzeichnet hatte. Deutsche Truppen hatten sich in Barcs versammelt und die Drau überquert, während die Luftwaffe Belgrad in Schutt und

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