Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Shalhevet und er seien aus Frankreich geflüchtet, kurz bevor die Grenzen für Juden geschlossen wurden, und hätten in Jerusalem geheiratet, wo sie beide für die jüdische Bevölkerung in Palästina arbeiteten; Rosen in der Abteilung für Siedlungsplanung, Shalhevet im Amt für Immigrationshilfe. Ein Kind war unterwegs, es sollte im November zur Welt kommen. Es trudelten sogar Briefe von Andras’ Brüdern ein: Tibor verbrachte seinen Heimaturlaub zu Hause bei Ilana und war mit ihr zum ersten Mal auf den Burgberg gestiegen; ein Foto zeigte die beiden vor einem Geländer, Ilana strahlte, ihre Hand lag in der von Tibor. Mátyás in seiner Arbeitsdienstkompanie litt unter Frühlingsgefühlen und hatte sich heimlich in die nächste Stadt gewagt, wo er Bier getrunken, mit Mädchen in der örtlichen Schenke getanzt, in seinen Stiefeln auf der Theke gesteppt hatte und anschließend, ohne erwischt zu werden, zurück zum Bataillon gehuscht war.
Als Reaktion auf das Elend in Bánhida dachte sich Mendel eine neue Publikation namens Die Stechfliege aus. Anfänglich hielt Andras es für an Tollkühnheit grenzende Dreistigkeit, erneut eine Zeitung zu machen, nach allem, was in der 112/30 geschehen war. Doch Mendel argumentierte, sie müssten etwas tun, um nicht verrückt zu werden. Die neue Zeitung, sagte er, würde zwar einen ironischen Grundton haben, jedoch direkten Spott über Lagerverantwortliche vermeiden. Wenn sie ertappt würden, gäbe es nichts, was der Kommandeur persönlich nehmen könne. Sicherlich beinhalte das Ganze ein gewisses Risiko, doch die Alternative sei, sich vom Munkaszolgálat zum Schweigen bringen zu lassen. Wie sollte Andras nach der Demütigung, die er auf dem Sammelplatz über sich hatte ergehen lassen, sich noch weigern, protestierend die Stimme zu erheben?
Andras willigte schließlich ein, Mendel ein weiteres Mal als Mitherausgeber zur Seite zu stehen. Seine Entscheidung wurde zum Teil von Eitelkeit und zum Teil von dem Wunsch getragen, seine Würde nicht zu verlieren; das wichtigste Motiv war jedoch die Vorstellung, zusammen mit Mendel für die Redefreiheit und den Kampfgeist ihrer Kameraden einzutreten. Bei der 112/30 hatte er gesehen, wie sich Die Schneegans zum Symbol des täglichen Kampfes entwickelte. Es hatte die Männer in gewisser Hinsicht erleichtert, dass ihr Elend auf Papier festgehalten wurde. Dass die Art, wie man sie behandelte, als Skandal erkannt wurde, der die Veröffentlichung einer Untergrundzeitung nötig machte, selbst wenn es eine so abwegige wie Die Schneegans war. Hier in Bánhida wäre es zumindest einfacher, Zeichenmaterial zu bekommen; auf dem Schwarzmarkt gab es so gut wie alles. Abgesehen von Debreciner Würstchen, Fox-Zigaretten, Fotos von Hedy Lamarr und Rita Hayworth, Erbsenkonserven, Wollsocken, Zahnpulver und Wodka, konnte man auch Papier und Zeichenstifte kaufen. Und es gab eine Menge zu illustrieren. Die erste Ausgabe der Stechfliege enthielt ein Wörterbuch, in dem Begriffe definiert wurden wie »Morgenappell« ( ein beliebtes Gesellschaftsspiel, bei dem sich Langeweile, Leibesertüchtigung und Demütigung abwechseln ), »Wasserträger« ( ein Arbeitsmann mit leerem Eimer und vollem Bauch ) und »Schlaf« ( ein seltenes natürliches Phänomen, über das nur wenig bekannt ist ). Es gab ein Horoskop, das für jedes Sternzeichen Kummer versprach. Es gab Werbung für die Dienste eines Privatdetektivs, der für etwaige Auftraggeber herausfinden wollte, ob dessen Frau oder Freundin untreu gewesen sei, sich jedoch mit einem Widerruf von jeder Verantwortung freisprach, falls sich unbeabsichtigt eine Beziehung zwischen ihm und dem Gegenstand seiner Ermittlung entwickeln sollte. Es gab Kleinanzeigen ( Gesucht: Arsen. Zahle in Raten. ) und eine Romanserie über das Abenteuer einer Nordpolexpedition, die sich zunehmender Beliebtheit erfreute, je wärmer es wurde. Mithilfe eines jüdischen Angestellten von der Ausgabestelle wurde die Zeitung wöchentlich mit fünfzig Exemplaren gedruckt. Es dauerte nicht lange, da genossen Andras und Mendel einen stillen journalistischen Ruhm unter den Lagerinsassen.
Doch was Die Stechfliege nicht bieten konnte, war das, was alle am ehesten von einer Zeitung erwarteten: echte Nachrichten aus Budapest und dem Rest der Welt. Dafür mussten sie sich auf die wenigen zerfledderten Zeitungen verlassen, die von Verwandten geschickt oder von Wachleuten weggeworfen wurden. Diese Blätter wurden herumgereicht, bis sie unlesbar und die in ihnen
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