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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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einer Stechfliege . Am Ende eines jeden Arbeitstages machte er ein X in ein Kästchen, und mit der Zeit wurde aus den Tagen eine ganze Prozession von Kreuzen. Zwischen Budapest und Bánhida flogen die Briefe hin und her: Klara gab immer noch Privatunterricht, sie würde so lange lehren, wie sie die Tanzbewegungen vorführen könnte. Sie legte Geld zur Seite, damit sie eine größere Wohnung mieten könnten, wenn Andras heimkehrte. Ein Freund ihrer Mutter besäße ein Haus auf der Nefelejcs utca; die Gegend sei nicht gerade schick, aber das Gebäude in der Nähe der Benczúr utca und nur einige Querstraßen vom Stadtwäldchen entfernt. Nefelejcs war der Name des blauen Blümchens, das im Wald wuchs und zahllose gelbe Ringe in der Mitte hatte: Vergissmeinnicht. Das konnte er natürlich nicht, nicht für einen Augenblick; Andras’ Leben schwebte auf der Schwelle zu einer unvorstellbaren Veränderung.
    Im September geschah ein Wunder: Andras erhielt einen dreitägigen Heimaturlaub. Es gab keinen besonderen Grund für dieses Glück, soweit er feststellen konnte; in Bánhida wurden Heimaturlaube offenbar nach dem Zufallsprinzip genehmigt, es sei denn, es gab einen Todesfall in der Familie. Andras erfuhr davon an einem Donnerstag, bekam seine Papiere am Freitag und stieg am Samstagmorgen in den Zug nach Budapest. Es war ein strahlender Tag, die Luft war weich von der letzten strahlenden Wärme des Sommers. Der Himmel über ihm leuchtete in einem klaren Blassblau, und als der Zug sich von Bánhida entfernte, verzog sich der Schwefelgeruch vor dem süßen grünen Duft geschnittenen Grases. Entlang der Feldwege neben den Gleisen fuhren Bauern mit Heu und Mais beladene Karren. Die Märkte in Budapest wären voller Kürbisse und Äpfel und Rotkohl, Paprikaschoten und Birnen, später Trauben und Kartoffeln. Es war umwerfend, sich vorzustellen, dass es so etwas immer noch auf der Welt gab – dass es so etwas die ganze Zeit gegeben hatte, während er mit einer Kost aus Kaffee, dünner Suppe und wenigen hundert Gramm sandigen Brotes überlebte.
    Klara wartete am Keleti-Bahnhof auf ihn. In seinem ganzen Leben hatte er noch keine so schöne Frau wie sie gesehen: Sie trug ein Kleid aus roséfarbenem Jersey, das ihren angeschwollenen Bauch umspielte, und einen eng anliegenden Hut aus zimtfarbener Wolle. Als fortwährendes Aufbegehren gegen die vorherrschende Mode trug sie ihr Haar ungeschnitten und ungelockt: Sie hatte es zu einem tiefen Knoten im Nacken geschlungen. Andras nahm sie in die Arme, atmete den dunklen Duft ihrer Haut ein. Er hatte Angst, sie so heftig an sich zu drücken, wie er gerne wollte. Er hielt sie auf Armeslänge von sich und betrachtete sie.
    »Stimmt es?«, fragte er.
    »Kannst du doch sehen.«
    »Aber stimmt es wirklich ?«
    »Das werden wir wohl in ein paar Monaten erfahren.« Sie hakte sich beim ihm unter und führte ihn vom Bahnhof in Richtung Városliget. Er konnte kaum glauben, dass es möglich war, mit Klara an der Seite durch einen Septembernachmittag zu schlendern, sein Werkzeug weit fort in Bánhida, und vor ihm lag nichts außer die Aussicht auf Freude und Ruhe. Als sie in die István út einbogen und Andras klar wurde, dass sie sich dem Haus von Klaras Familie näherten, wappnete er sich für die unvermeidliche Konversation mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin, möglicherweise sogar mit József, der ein Atelier in Buda gemietet hatte, damit er wieder malen konnte. Das Fehlen von Andras’ Offiziersabzeichen würde erklärt, seine Ausgezehrtheit kommentiert und bedauert werden müssen, und die ganze Zeit würde er in die selbstzufriedenen, wohlgenährten Gesichter von Klaras Verwandtschaft schauen und den schmerzlichen Unterschied zwischen deren Lage und seiner eigenen spüren. Doch als sie die Ecke von István út und Nefelejcs utca erreichten, blieb Klara vor der Tür eines grauen Steingebäudes stehen und holte einen Schlüsselring aus der Tasche. Sie hielt Andras einen schmuckvollen Schlüssel zum Bewundern hin. Dann schob sie ihn in das Schloss der Eingangstür, die nach innen aufschwang und sie hereinließ.
    »Wo sind wir?«, fragte Andras.
    »Wirst du gleich sehen.«
    Im Hof waren die üblichen Dinge: Fahrräder, Farne in Blumentöpfen und Tomatenpflanzen in Holzkästen. In der Mitte stand ein bemooster Brunnen mit Seerosenblatt und Goldfischen; ein dunkelhaariges Mädchen saß am Rand und zog die Hand durchs Wasser. Mit ernsten Augen blickte es zu Andras und Klara auf, dann trocknete es sich

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