Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
sich an den Kleineren der beiden, einen untersetzteren Mann, der den Eindruck vermittelte, durch die Gerüche von Fleisch und geschmorten Paprika gequält zu werden.
»Telegramm für Major Barna«, sagte Andras und hob die Hand mit dem blauen Umschlag.
Der Wachmann blinzelte ihn im Licht der elektrischen Lampen an. Schnee wirbelte durch die Luft. »Wo ist der Adjutant?«, fragte er.
»Ebenfalls beim Essen«, erwiderte Andras. »Kovács aus der Schreibstube hat mir aufgetragen, es ihm persönlich auszuhändigen.«
»Gib her«, sagte die Wache. »Ich sorge dafür, dass er es bekommt.«
»Ich habe Anweisung, es persönlich zu überbringen und auf eine Antwort zu warten.«
Der kleine, untersetzte Wachmann warf seinem Gegenüber einen Blick zu, einem bulligen jungen Soldaten, der halb eingeschlafen war. Dann winkte er Andras zu sich heran und beugte den Kopf vor. »Was willst du wirklich?«, fragte er. »Arbeitsmänner überbringen Lagerkommandeuren keine Telegramme. Ich bin hier vielleicht neu, aber ich bin kein Dummkopf.« Er sah Andras geradewegs in die Augen, und der antwortete instinktiv mit der Wahrheit.
»Meine Frau hat gerade ein Kind bekommen, fünf Wochen zu früh«, sagte er. »Der Kleine ist krank. Ich muss nach Hause. Ich will um Sonderurlaub bitten.«
Der Wachmann lachte. »Mitten beim Essen? Du musst verrückt sein.«
»Das kann nicht warten«, sagte Andras. »Ich muss sofort nach Hause.«
Der Wachmann schien zu überlegen, was zu tun sei. Er schaute über die Schulter in die Messe und dann hinüber zu dem bulligen jungen Soldaten. »He, Mohács«, sagte er. »Kannst du mal kurz die Wache übernehmen? Ich muss diesen Kerl da reinbringen.«
Der bullige Mann zuckte mit den Schultern, grunzte zustimmend und versank fast auf der Stelle wieder in seinem halb bewusstlosen Zustand.
»Gut«, sagte der andere. »Komm mit. Ich muss dich abtasten.«
Sprachlos vor Dankbarkeit folgte Andras dem Soldaten in die Vorhalle und ließ die Durchsuchung über sich ergehen. Als der Wachmann sich überzeugt hatte, dass Andras keine Waffe trug, legte er eine Hand auf seinen Arm und sagte: »Komm mit. Und sprich mit niemandem, verstanden?«
Andras nickte, und sie traten in das Getöse der Offiziersmesse. Die langen Tische waren in Reihen aufgestellt, die Offiziere saßen nach Rang getrennt. Barna speiste mit seinen Leutnants an einem erhöhten Tisch. An seiner Seite war ein hochrangiger Offizier, den Andras noch nie gesehen hatte: ein gedrungener silberhaariger Mann in einem Rock, der vor Tressen nur so funkelte, die Schultern starrten vor Abzeichen. Er trug einen gepflegten stahlgrauen Bart in altmodischem Stil und ein goldumrandetes Monokel. Er sah aus wie ein alter General aus dem Großen Krieg.
»Wer ist das?«, fragte Andras den Wachmann.
»Keine Ahnung«, gab der zurück. »So was erzählen sie uns nicht. Aber es sieht aus, als hättest du für dein Debüt im Essenstheater einen guten Abend erwischt.« Er führte Andras zu einem anderen Soldaten, der neben dem Tisch am Kopfende der Tafel strammstand, neigte den Kopf zu dessen Ohr und sprach wenige Worte. Der Soldat nickte und ging zu einem Adjutanten, der an einem der Tische weiter vorn saß. Er beugte sich zu ihm hinunter und sprach ihn an, und der Adjutant hob den Kopf und betrachtete Andras mit einer Mischung aus Verwunderung und Mitleid. Langsam stand er von seiner Bank auf und ging zum Tisch am Kopfende, wo er vor Major Barna salutierte und die Nachricht wiederholte, wobei er über die Schulter einen Blick auf Andras warf. Barnas Brauen zogen sich zusammen, er presste die Lippen zu einem weißen Strich aufeinander. Dann legte er Messer und Gabel beiseite und erhob sich. Die Männer verstummten. Der prächtige ältere Offizier schaute fragend auf.
Barna machte sich so groß er konnte. »Wo ist dieser Lévi?«, fragte er.
Noch nie hatte sich Andras’ Name so sehr wie ein Schimpfwort angehört. Er bemühte sich, die Schultern geradezuhalten, als er antwortete: »Ich bin hier, Herr Major.«
»Vortreten, Lévi«, sagte der Major.
Es war das zweite Mal, dass Barna ihm diesen Befehl erteilte. Andras wusste noch gut, was beim ersten Mal geschehen war. Er machte einige Schritte nach vorn und senkte den Blick.
»Sehen Sie, Herr General«, sagte Barna zu dem hochdekorierten feinen Herrn neben sich. »Das ist der Grund, warum wir nicht vorsichtig genug sein können, wenn es um die Freiheiten geht, die wir unseren Arbeitern zugestehen. Sehen Sie diese Wanze
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