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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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ich kann nicht schlafen. Ilana ist jetzt in der 21. Woche. Beim letzten Mal hatte sie die Fehlgeburt in der 22. Andras hätte Tibor gerne mitgeteilt, was er in Budapest erfahren hatte, wollte Tibors Ängste jedoch nicht noch durch seine eigenen vergrößern. Dennoch war er nicht allein mit seinen Sorgen; jede Woche kamen zwei elfenbeinfarbene Umschläge aus der Benczúr utca mit zuversichtlichem Inhalt. Der eine war von György – Keine Neuigkeiten, keine neuen Drohungen. Alles wie bisher – und der andere trug das Siegel von Klaras Mutter – Lieber Andras, wisse, dass wir alle an Dich denken und Dir eine baldige Rückkehr wünschen. Wie sehr Klara Dich vermisst, lieber Junge! Und wie glücklich sie sein wird, wenn Du nach Hause kommst. Der Arzt meint, dass sie sich gut macht . Einmal schickte sie Andras ein kleines Päckchen, dessen Inhalt offenbar so verlockend gewesen war, dass bei der Aushändigung außer ihrem kurzen Schreiben nichts mehr darin lag: Andráska, hier sind ein paar Süßigkeiten für Dich. Wenn Du sie magst, schicke ich Dir noch mehr . Andras hatte das Päckchen mit in die Baracken genommen, um es Mendel zu zeigen, der laut gelacht und vorgeschlagen hatte, es als Symbol des Lebens in Bánhida auf ein Wandbrett zu stellen. Es war ein großer Trost, Mendel bei sich zu haben; sie würden ihren Dienst gemeinsam beenden und im selben Zug zurück nach Budapest fahren. Zumindest nahmen sie sich das vor, wenn sie die Kästchen in ihrem selbst gezeichneten Kalender ankreuzten, während die Tage kälter wurden und die fernen Hügel zu einem wintrigen Braun verblassten.
    Doch am 25. November, ein Tag, dessen graue Leere abends einem Konfettisturm aus Schnee wich, wartete im Zentralbüro ein Telegramm von György auf Andras. Mit zittrigen Händen riss er es auf und las, dass Klara in der vergangenen Nacht ein Kind zur Welt gebracht hatte, fünf Wochen vor dem errechneten Termin. Sie hatten einen Sohn, aber er sei sehr krank. Andras müsse sofort heimkommen.
    Es dauerte lange, ehe er sich bewegen oder sprechen konnte. Andere Arbeitsmänner wollten ihn zur Seite schieben, um an den Schalter zu gelangen; ob er den ganzen Tag dort stehen wollte? Er tastete sich bis zur Tür und schwankte hinaus in den Schnee. Die Lichter im Lager waren an dem Abend schon früh eingeschaltet worden. Sie bildeten einen leuchtenden Ring um den Hof, nur unterbrochen von einer Klammer hellerer, höherer Lampen zu beiden Seiten des Verwaltungsgebäudes. Andras näherte sich dieser Lichtklammer wie einem Tor, durch das er nach Budapest geführt würde. Er hatte einen Sohn, aber er war sehr krank. Einen Sohn. Einen Jungen. Sein Junge und Klaras. Fünfzig Kilometer entfernt. Zwei Stunden mit dem Zug.
    Die Wachen, die normalerweise die Tür flankierten, waren beim Essen. Ungehindert trat Andras ein. Er kam an Büros mit elektrischen Heizungen, Telefonen und Vervielfältigungsapparaten vorbei. Er wusste nicht, wo Major Barnas Büro war, doch er fühlte sich in das Herz des Gebäudes vor, folgte den architektonischen Kraftlinien. Dort, wo er das Büro des Majors untergebracht hätte, wenn er das Haus entworfen hätte, fand er es tatsächlich vor. Aber die Tür war verschlossen. Auch Barna war zum Essen gegangen. Andras trat zurück nach draußen in den wirbelnden Schnee.
    Jeder wusste, wo sich die Offiziersmesse befand. Es war der einzige Ort in Bánhida, von dem der Geruch anständigen Essens ausging. Von wegen dünne Brühe, hartes Brot; dort aßen sie Hühnchen, Kartoffeln und Pilzsuppe, Kalbspaprikás und Kohlrouladen, alles mit Weißbrot. Arbeitsmänner, die den Befehl bekamen, Kohle dorthin zu bringen oder Abfall aus der Offiziersmesse zu entfernen, litten unter den Düften dieser Gerichte. Kein Arbeitsmann durfte die Messe betreten, außer denen, die die Offiziere bedienten; das Gebäude wurde von bewaffneten Soldaten bewacht. Doch Andras näherte sich dem Haus ohne Angst. Er hatte einen Sohn. Das erste freudige Hochgefühl hatte sich mit dem körperlichen Bedürfnis vermischt, das Kind zu beschützen, seinen eigenen Körper zwischen den Kleinen und all das zu stellen, was ihm Schaden zufügen mochte. Und Klara: Wenn das Kind gefährlich krank war, brauchte auch sie ihn. Bewaffnete Wachen hatten keine Bedeutung. Wichtig war jetzt ganz allein, dass er Bánhida verlassen konnte.
    Die zwei Wachleute an der Tür kannte er nicht; sie mussten frisch aus Budapest sein. Das war zu Andras’ Vorteil. Er näherte sich der Tür und wandte

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