Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
»Habe ich Sie richtig verstanden, Herr General?«, fragte er. »Ich fahre noch heute Abend nach Budapest?«
Der General nickte kurz. »Packen Sie besser Ihre Sachen. In einer halben Stunde brechen wir auf.«
In den Baracken herrschte allgemeine Ungläubigkeit, als Andras die ganze Geschichte erzählt hatte. Schließlich brach heiserer Jubel aus. Mendel küsste Andras auf beide Wangen und versprach ihm, in die Wohnung auf der Nefelejcs utca zu kommen, sobald er zurück in Budapest sei. Als die halbe Stunde verstrichen war, gingen alle in den Hof und sahen zu, wie der schwarze Wagen vorfuhr und der Chauffeur Andras half, seinen Armeerucksack in den Kofferraum zu hieven. Wann war zum letzten Mal einem von ihnen, den Arbeitern, geholfen worden, etwas Schweres anzuheben? Wann war das letzte Mal einer von ihnen in einem Wagen gefahren? Die Männer versammelten sich vor den Stufen der Baracke, der Wind hob die Aufschläge ihrer schäbigen Mäntel, und bei dem Gedanken, die anderen zurückzulassen, verspürte Andras einen Stich der Schuld. Er stellte sich vor Mendel und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Wenn du doch mitkommen könntest«, sagte er.
»Es sind nur noch zwei Wochen«, sagte Mendel.
»Was machst du mit der Stechfliege ?«
Mendel lächelte. »Vielleicht ist es Zeit, den Betrieb einzustellen. Die Fliegen sind eh alle tot.«
»Dann sehen wir uns in zwei Wochen«, sagte Andras und drückte Mendels Schulter.
»Viel Glück, Parisi!«
»Los jetzt!«, rief der Chauffeur. »Der General wartet.«
Andras setzte sich nach vorn und schlug die Tür zu. Der Motor heulte auf, und sie fuhren zur Offiziersunterkunft. Dort angekommen, war zu spüren, dass es weiteren Streit zwischen Barna und dem General gegeben hatte; Barna lief fuchsteufelswild vor dem Quartier des Generals auf und ab, als der General mit seiner Reisetasche nach draußen kam. Der Fahrer packte die Tasche in den Kofferraum, und der General rutschte ohne ein Wort auf den Rücksitz.
Ehe Andras begreifen konnte, dass er wirklich davonfuhr, dass er nie wieder zu den schwefeligen Kohleminen von Bánhida zurückkehren musste, passierte der Wagen das Tor und bog auf die Straße. Auf der langen, dunklen Fahrt waren nur das Schnurren des Motors und das Flüstern der Reifen auf dem Schnee zu hören. Während die Scheinwerfer durch ein endloses Getümmel von Schneeflocken schnitten, dachte Andras wieder an den Neujahrstag, an dem er mit Klara zum Square Barye gegangen war, um die Sonne über der eisigen Seine aufsteigen zu sehen. An jenem weit zurückliegenden Januarmorgen hätte er niemals geglaubt, dass er eines Tages der Vater von Klaras Kind sein würde, dass er eines Tages in einer Limousine der ungarischen Armee durch die Nacht sausen würde, um seinen neugeborenen Sohn zu sehen. Er musste an das Stück von Schubert denken, das Klara ihm eines Winterabends vorgespielt hatte: Der Erlkönig . Darin ritt ein Vater mit seinem kranken Kind auf dem Pferd durch die Nacht, verfolgt vom Erlkönig, der unbedingt des Kindes habhaft werden wollte. Andras erinnerte sich an die Verzweiflung des Vaters, an das unerbittliche Näherrücken des Todes. Er hatte sich immer vorgestellt, dass diese Jagd in einer Nacht wie dieser stattfand. In der Wärme des Wagens wurden seine Hände kalt. Er drehte sich zu dem um, was hinter ihm lag. Alles, was er sehen konnte, war der leise auf dem Rücksitz schnarchende General und hinter dem kleinen Oval der Heckscheibe ein Getümmel von Schneeflocken, rot erleuchtet von den Hecklichtern.
Sie brauchten anderthalb Stunden bis zum Gróf-Apponyi-Albert-Hospital. Als der Wagen dort hielt, erwachte der General und räusperte sich. Er setzte seine Mütze auf und glättete seinen dekorierten Rock.
»Nun, also«, sagte er. »Gehen wir.«
»Sie wollen doch nicht mit mir hineingehen, Herr General«, sagte Andras.
»Ich bringe zu Ende, was ich begonnen habe. Nennen Sie dem Chauffeur Ihre Adresse, dann deponiert er Ihr Gepäck bei Ihrem Hausmeister.«
Andras gab dem Fahrer seine Anschrift auf der Nefelejcs utca. Der Chauffeur sprang heraus, um dem General die Tür zu öffnen, und der General wartete, bis Andras auf dem Bürgersteig zu ihm aufschloss. Mit Andras an seiner Seite marschierte er ins Krankenhaus.
Am Tisch der Nachtwache saß ein schmales Männlein mit einer Augenklappe, die Füße auf einen Metalleimer gelegt, und las die ungarische Übersetzung von Mein Kampf. Als das Kerlchen hochblickte und den General auf sich zukommen sah, ließ
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