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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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und dann zu Weiß. Der General stand neben ihm, die Arme vor der Brust verschränkt. Es gab keine Möglichkeit, den Befehl zu verweigern. Der Ranghöhere besaß die uneingeschränkte militärische Befehlsgewalt. Barna trat vom Podium und marschierte auf Andras zu. Er hielt vor ihm inne und streckte mit gallebitterer Miene die Hand aus. Andras warf dem General einen dankbaren Blick zu und ergriff Barnas Hand. Doch kaum hatte er sie berührt, spie Barna ihm ins Gesicht und ohrfeigte ihn mit ebendieser Hand. Ohne ein weiteres Wort ging der Major durch die Tischreihen davon und verschwand in der Nacht. Andras fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht.
    Der General blieb auf dem Podium stehen und schaute auf die Offiziere in den Bänken hinab. Alles war zum Stillstand gekommen: Die Arbeitsleute, die die Offiziere bedienten, standen mit schmutzigen Tellern am Ende des Raumes, der Koch hörte auf, in der Küche mit den Töpfen zu hantieren, die Offiziere schwiegen, die Zinkgabeln und -löffel lagen neben den Tellern.
    »Was hier gerade geschehen ist, ist eine Schande für die königlich-ungarische Armee«, sagte der General. »Als ich zur Armee ging, war mein erster Befehlshaber ein Jude. Er war ein mutiger Mann, der im Dienst für sein Vaterland sein Leben in Lemberg ließ. Was auch immer Ungarn heute ist, es ist nicht das Land, für dessen Verteidigung er starb.« Er hob das zerknüllte Telegramm auf und reichte es zu Andras hinunter. Dann warf er seine Serviette auf den Tisch und wies den jungen Wachmann an, Andras unverzüglich in sein Offiziersquartier zu bringen.
    General Martón war in den größten und behaglichsten Räumen von Bánhida untergebracht, was bedeutete, dass er über ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer verfügte, so man die kalte, wenig verlockende Nische, in der Andras sich wiederfand, denn als Wohnzimmer bezeichnen konnte; dort stand nichts außer einem Tisch mit einem Aschenbecher und zwei groben Holzsesseln, die so schmal waren und eine so steile Rückenlehne hatten, dass sie auch von der kürzesten Verweildauer abschreckten. Elektrisches Licht leuchtete. Der Kamin war dunkel. Im Nebenzimmer packte ein Assistent die Sachen des Generals. Andras stand neben der Tür und wartete darauf zu erfahren, was der General sagen würde, nachdem er Anweisung gegeben hatte, seinen Wagen vorfahren zu lassen.
    »Ich bleibe keine Nacht länger an diesem Ort«, sagte er zu dem ängstlich dreinschauenden Sekretär, der unablässig neben ihm herschlich. »Die Inspektion des Lagers ist abgeschlossen, so weit es mich angeht. Richten Sie Major Barna aus, dass ich fort bin.«
    »Jawohl, Herr General«, sagte der Sekretär.
    »Und holen Sie die Akte dieses Mannes aus dem Büro«, sagte er. »Aber bitte schnell.«
    »Jawohl, Herr General«, wiederholte der Sekretär und eilte davon.
    Der General wandte sich an Andras. »Nun sagen Sie mal«, begann er. »Wie lange dauert Ihr Dienst noch?«
    »Zwei Wochen, Herr General«, sagte Andras.
    »Zwei Wochen. Und verglichen mit der Zeit, die Sie bereits gedient haben, erscheinen Ihnen da zwei Wochen sehr lang?«
    »Unter diesen Umständen sind sie eine Ewigkeit.«
    »Was würden Sie denn dazu sagen, wenn Sie dieses Loch für alle Zeit hinter sich lassen könnten?«
    »Ich weiß nicht genau, ob ich Sie richtig verstanden habe.«
    »Ich werde für Ihre Entlassung aus Bánhida sorgen«, sagte der General. »Sie haben hier lange genug gedient. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie nicht erneut eingezogen werden, gerade jetzt nicht, wo die Lage so unsicher ist. Aber ich kann Sie heute Abend nach Budapest bringen. Sie können in meinem Wagen fahren. Ich breche jetzt gleich auf. Ich wurde hergeschickt, um Barnas Einrichtung gründlich zu inspizieren, da man seine Beförderung in Betracht zieht, aber ich habe schon genug gesehen.« Er nahm eine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche und klopfte eine Zigarette heraus, dann steckte er sie wieder fort, als hätte er nicht den Mut, sie zu rauchen. »Die Frechheit dieses Mannes!«, sagte er. »Der kann nicht mal einen Esel führen, geschweige denn ein ganzes Arbeitsbataillon. Nicht die Juden sind das Problem, sondern Männer wie er. Wer, glauben Sie denn, hat uns in dieses Schlamassel geritten? Gegen Russland und Großbritannien gleichzeitig Krieg zu führen! Was glauben Sie, soll daraus werden?«
    Andras war nicht in der Lage, die Frage zu beantworten. Es gab einen anderen Umstand, der im Moment von größerer Bedeutung für ihn war.

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