Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Seine Mutter gab ihm den Karton zurück und schlug vor, den Zug eine Weile zu Hause zu lassen. Andras ging mit dem Gefühl hinein, seine Anya sei ein übermenschliches Wesen, das ihm im Moment der Gefahr zu Hilfe eile. Schnell genug war diese Hoffnung verflogen; nicht lange danach war er in Debrecen zur Schule gegangen, wo seine Mutter ihn nicht mehr schützen konnte. Aber jener Zwischenfall hatte tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Auch jetzt konnte er die Kraft seiner Mutter spüren, als würde sich die Episode von damals wiederholen: Der rote Pappkarton seines Lebens flog durch die Luft, und seine Mutter streckte die Hände aus, um ihn zu fangen.
Wenn Andras sich nicht in Gedanken nach Klara verzehrte, dachte er an seine Brüder. Die Poststelle war zu einem Quell der Angst für ihn geworden. Wann immer er daran vorbeiging, malte er sich aus, ein Telegramm zu erhalten, das eine schreckliche Nachricht über Mátyás’ Schicksal enthielt. Seit seiner Versetzung Richtung Ostfront hatte Andras nichts mehr von ihm gehört, Györgys Hilfsbemühungen hatten sich als aussichtslos erwiesen. Er hatte verschiedene Briefe an hochrangige Offiziere beim Munkaszolgálat geschrieben, aber lediglich die Antwort erhalten, dass sich niemand um eine solch nebensächliche Angelegenheit kümmern könne, solange ein Krieg zu führen sei. Wenn er Mátyás’ Freistellung vom Dienst erwirken wolle, müsse er sich an den Bataillonskommandeur des jungen Mannes in Belgorod wenden. Weitere Erkundigungen ergaben, dass Mátyás’ Bataillon nicht länger in Belgorod stationiert war, sondern weiter nach Osten geschickt worden war; jetzt lag die Kommandostelle des Bataillons irgendwo in der Nähe von Rostow am Don. György schickte ein Sperrfeuer von Telegrammen an den Kommandeur, hörte jedoch wochenlang nichts. Dann erhielt er eine kurze handschriftliche Notiz von einem Bataillonssekretär, der ihm mitteilte, dass Mátyás’ Kompanie im weißen Nichts des russischen Winters verschollen sei. Einige Wochen zuvor hätte man sie über Funk geortet, doch mittlerweile seien die Fernmeldeleitungen zusammengebrochen, der Aufenthaltsort könne nicht mehr mit absoluter Sicherheit bestimmt werden.
So musste er es sich also vorstellen: sein Bruder Mátyás irgendwo draußen im Schnee, die Verbindungsleitung zur Kommandostelle seines Bataillons durchtrennt, seine Kompanie mit der dazugehörigen Armee in immer größerer Kälte und Gefahr. Was hatte Mátyás zu essen? Was trug er am Leib? Wo schlief er? Wie konnte Andras nachts im Feldbett liegen und jeden Morgen Brot essen, wenn sein Bruder in der Ukraine verschollen war? Glaubte Mátyás vielleicht, Andras hätte nicht versucht, ihm zu helfen, oder György Hász hätte sich geweigert? Wer war verantwortlich für Mátyás’ prekäre Situation? Edith Novak, die Klaras Geheimnis verraten hatte? Klaras damalige Angreifer? Oder Andras selbst, dessen Verbindung zu Klara den Preis für die Freiheit seines Bruders in die Höhe getrieben hatte? War es vielleicht Miklós Horthy, dessen Gier nach Ungarns ehemaligen Gebieten ihn in den Krieg getrieben hatte, oder Hitler, der von seinem Wahnsinn nach Russland geschickt wurde? Wie viele Menschen außer Mátyás befanden sich in diesem Winter in vergleichbar grauenvollen Situationen, und wie viele würden sterben, bevor der Krieg vorbei war?
Es war ein gewisser Trost, dass zumindest Tibor weit entfernt von der Front war. Seine Briefe flatterten je nach Laune des Militärpostdienstes aus Transsilvanien herein. Mal vergingen drei Wochen ohne ein Wort, dann kamen fünf Briefe auf einmal, gefolgt von einer Ansichtskarte am Tag darauf, dann wieder zwei Wochen lang gar nichts. Im Verlauf von Tibors Aufenthalt in den Karpaten war der Ton seiner Briefe von einem unbekümmerten Frotzeln zu einem verzweifelten Monoton übergegangen: Lieber Andras, wieder ein Tag Brückenbau. Ilana fehlt mir furchtbar. Mache mir jede Minute Sorgen um sie. Hier nur Katastrophen: Heute hat sich mein Kamerad Roszenzweig den Arm gebrochen. Ein komplizierter offener Bruch. Ich habe natürlich weder Schienen noch Gips, noch Antibiotika. Musste den Bruch mit einem Brett aus dem Barackenboden schienen. Oder: Letzte Woche erkrankten acht Arbeitsmänner an Lungenentzündung. Drei starben. Wie es mich bekümmert, daran zu denken! Ich weiß, dass ich sie hätte retten können, wenn ich nicht mit dem Straßenbautrupp rausgeschickt worden wäre. Und ein anderer Brief in voller Länge: Lieber Andráska,
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