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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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verängstigt da, und er dachte, er müsse mit dem Skalpell zuerst in sein Handgelenk schneiden und dann weitersehen. Jede Nacht erwachte er im Dunkeln zum Husten und Schnarchen seiner Kameraden, überzeugt, dass Klara gestorben war, ohne dass er ihr hatte helfen können. Sein einziger Trost bestand darin, dass sein Arbeitsdienst am 15. Dezember enden würde, zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Er wusste, dass es närrisch war, all seine Hoffnungen auf das Entlassungsdatum zu richten, da der Munkaszolgálat doch so wenig Respekt vor den Versprechen zeigte, die er seinen Rekruten gegeben hatte; Andras rief sich die harte Lektion der Enttäuschung in Erinnerung, die er in seinem ersten Jahr hatte lernen müssen. Doch er hatte nichts anderes als dieses Datum, und er klammerte sich daran wie an einen Talisman: der 15. Dezember. Der 15. Dezember. Das sprach er beim Arbeiten vor sich hin, als ob die ständige Wiederholung das Eintreffen beschleunigen könne.
    Als er eines Morgens besonders verzweifelt war, ging er noch vor der Arbeit zur Andacht. In einem leeren Lagerhaus traf sich jeden Tag zu Sonnenaufgang eine Gruppe von Männern; einige von ihnen hatten kleine eselsohrige Gebetbücher dabei, und es gab eine Miniatur-Thora, aus der sie an Montagen, Donnerstagen und am Schabbes lasen. In seinem Tallit merkte Andras, dass er in Gedanken nicht mitbetete, sondern wie so oft, wenn er religiöse Pflichten erfüllte, an seine Eltern dachte. Als er ihnen geschrieben hatte, Klara sei schwanger, hatte sein Vater geantwortet, sie würden sofort nach Budapest reisen. Andras war skeptisch gewesen. Seine Eltern reisten nur ungern. Sie fürchteten den Lärm, die Kosten und die Menschenmassen, und sie hassten den Trubel von Budapest. Dennoch waren sie einige Tage später zu einem Besuch bei Klara aufgebrochen und drei Tage geblieben. Andras’ Mutter hatte versprochen, noch vor der Geburt des Kindes wiederzukommen und so lange zu bleiben, wie Klara sie bräuchte.
    Sie musste gewusst haben, dass es ein Trost für Andras wäre. Seine Mutter war erfahren darin, ihn zu trösten, ihm Sicherheit zu vermitteln; das hatte sie unbeirrbar während seiner gesamten Kindheit getan. Bei seinem stummen Gebet kehrte eine Erinnerung aus Konyár zu ihm zurück: Zu seinem sechsten Geburtstag hatte er einen Zirkuszug aus Blech zum Aufziehen geschenkt bekommen, in dem kleine Blechtiere hinter den Stäben der Waggons rasselten. Man konnte die Wagen öffnen und die Elefanten, Löwen und Bären herausnehmen und in einer Zirkusmanege auftreten lassen. Das Blechspielzeug war in einem roten Pappkarton aus Budapest angeliefert worden. Es überstieg jegliche Erwartung eines Kindes aus Konyár, sodass es Andras bei seinen Klassenkameraden zur Zielscheibe neidischen Zorns machte – vor allem bei zwei blonden Jungen, die ihm eines Nachmittags von der Schule nach Hause folgten und ihn fangen wollten, um ihm den Zug wegzunehmen. Im Laufen hielt Andras den roten Pappkarton an seine Brust gepresst, er rannte auf die Gestalt seiner Mutter zu, die er schon von Weitem im Hof sehen konnte: Sie klopfte Teppiche an der Holzstange im Obstgarten. Als sie die Schritte näher kommen hörte, drehte sie sich um. Andras mochte höchstens drei Meter von ihr entfernt gewesen sein. Doch ehe er bei ihr war, fing sich sein Fuß in einer Apfelbaumwurzel, und er stürzte vornüber. Der rote Karton flog in hohem Bogen durch die Luft, und Andras streckte die Hände aus, um den Sturz abzufangen. Mit einer eleganten Bewegung ließ seine Mutter den Teppichklopfer fallen und fing den Karton auf. Die Schritte von Andras’ Verfolgern hielten inne. Andras hob den Kopf und sah, wie seine Mutter die Schachtel mit dem Blechspielzeug unter den Arm klemmte und mit der anderen Hand den Teppichklopfer aufhob. Sie rührte sich nicht, stand einfach nur mit dem erhobenen Gegenstand da. Er bestand aus einem kräftigen Stiel mit einem flachen runden Korbgeflecht am Ende. Seine Mutter machte nur einen einzigen Schritt auf die beiden blonden Jungen zu. Obwohl Andras wusste, dass sie ein sanfter Mensch war – niemals hatte sie einen ihrer Söhne geschlagen –, schien ihre Körperhaltung Andras’ Verfolgern zu signalisieren, dass sie bereit war, sie mit ebenso viel Inbrunst zu verdreschen, wie sie gerade beim Teppichklopfen an den Tag gelegt hatte. Andras erhob sich gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Jungs die Straße hinunterflüchteten und ihre nackten Füße Staubwolken aufwirbelten.

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