Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
mussten sie sich natürlich um die schlichten Bedürfnisse des Neugeborenen kümmern: alle zwei Stunden stillen, Windeln wechseln, der kurze, unterbrochene Schlaf, die Momente unglaublicher Freude und bodenloser Furcht. Jedes Mal, wenn das Kind schrie, hatte Andras Angst, es würde nie wieder aufhören, sein Geschrei würde es erschöpfen und erneut krank machen. Doch Klara, die bereits ein Kind großgezogen hatte, wusste, dass der Kleine weinte, weil er irgendein Bedürfnis hatte, dass sie die Ursache herausfinden und Abhilfe schaffen konnte. Bald hörte der Säugling auf zu weinen; die Wohnung sank in einen Zustand zerbrechlichen Friedens. Dann saßen Andras und Klara beisammen und betrachteten ihren Sohn, ihren Tamás, bewunderten seine Augenbrauen, die denen von Klara glichen, seinen Mund, der wie der von Andras war, das Kinn mit dem Grübchen, wie es Elisabet hatte.
In diesen traumgleichen Tagen bekam Andras außer der Ebbe und Flut von Tamás Lévis Bedürfnissen nur wenig anderes mit. Der Krieg war weit entfernt und unwichtig; der Munkaszolgálat ein böser Traum, aus dem er aufgewacht war. Doch am Abend des siebenten Dezember, als Tamás beschnitten wurde, verkündete Andras’ Vater, dass die Japaner einen amerikanischen Luftwaffenstützpunkt auf Hawaii bombardiert hätten. Pearl Harbor: Der Name beschwor ein liebliches Bild herauf, sanfter grauer Himmel über weitem perlmuttfarbenen Wasser. Doch der Angriff war ein Blutbad gewesen. Die Japaner hatten fünf amerikanische Schlachtschiffe und dreihundert Flugzeuge schwer beschädigt oder zerstört, über 2400 Mann getötet und 1200 weitere verletzt. Andras wusste, dass die Vereinigten Staaten Japan nun den Krieg erklären und so das Band des Krieges um den ganzen Erdkreis ziehen würden. Und tatsächlich folgte die Kriegserklärung am nächsten Morgen, als Tamás Lévi in den Bund der Beschneidung eingetreten war. Drei Tage später erklärten Deutschland und Italien den Vereinigten Staaten den Krieg – und Ungarn den westlichen Alliierten.
Als Andras nachts am offenen Schlafzimmerfenster stand und dem Stimmengewirr auf dem Bethlen Gábor tér lauschte, überraschte er sich bei dem Gedanken, was die neue Kriegserklärung wohl für seine kleine Familie, für seine Brüder, seine Eltern und für Mendel Horovitz bedeuten mochte. Die Hauptstadt konnte bombardiert werden. Was knapp war, würde noch knapper werden. Weitere Soldaten würden einberufen werden, noch mehr Zwangsarbeiter eingezogen. Gerade erst hatte er Klara gesagt, er bliebe für immer zu Hause, aber wie lange würde er tatsächlich frei sein? Den KMOF interessierte es nicht, dass Andras die Gesundheit und Kraft gerade erst wieder zurückerlangte, die er in den Monaten im Munkaszolgálat eingebüßt hatte. Man würde ihn benutzen, so wie er die ganze Zeit benutzt worden war, ein schlichtes Werkzeug in einem Krieg, dessen Ziel es war, ihn zu zerstören. Aber noch hatten sie ihn nicht, dachte er: noch nicht. Im Moment war er zu Hause, in diesem stillen Schlafzimmer mit seiner schlummernden Frau und seinem Kind. Er konnte sich Arbeit suchen und damit den ersten Schritt tun, um den Lebensunterhalt für Klara und den Kleinen zu verdienen. Und er könnte György Hász etwas zurückgeben, einen kleinen Teil der gewaltigen Summe, die er jeden Monat für Klaras Freiheit aufbrachte. Andras hatte gehofft, Mendel Horovitz’ ehemaligen Chefredakteur beim Abendkurier auf eine Stellung als Grafiker oder Illustrator ansprechen zu können, aber Mendel hatte den Kurier verlassen, als er eingezogen wurde; seine alte Stelle war längst wieder besetzt, und dem Redakteur selbst war gekündigt und er war zum Munkaszolgálat einberufen worden. Seit seiner Rückkehr war Mendel jeden Tag mit seiner Bewerbungsmappe unterwegs gewesen und hatte Klinken geputzt. Am Nachmittag konnte man ihn im Café Europa am Hunyadi tér antreffen, eine Tasse schwarzen Kaffee vor sich, ein Notizblock aufgeschlagen auf dem Tisch. Nun, Andras wollte am nächsten Tag zum Hunyadi tér gehen und Mendel einen Vorschlag unterbreiten: Die beiden könnten doch im Büro von Frigyes Eppler vorstellig werden, Andras’ ehemaligem Chefredakteur bei Vergangenheit und Zukunft , und ihn bitten, sie gemeinsam als Autor und Illustrator einzustellen. Frigyes Eppler war jetzt zuständig für den Kulturteil beim Budapester Jüdischen Journal . Das Büro der Zeitung war auf der Wesselényi utca, einige Querstraßen vom Café Europa entfernt.
Um drei Uhr am
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