Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
es das Buch fallen und sprang auf. Sein gesundes Auge huschte zwischen Andras und dem General hin und her; der Anblick dieses hochdekorierten Führers der ungarischen Armee in Begleitung eines abgezehrten, schäbigen Arbeitsdienstlers. Stammelnd erkundigte sich der Mann, wie er dem General zu Diensten sein könne.
»Dieser Mann muss seine Frau und seinen Sohn sehen«, sagte der General.
Die Nachtwache blickte den Gang hinunter, als würde sich dort in irgendeiner Form Hilfe oder Erleuchtung zeigen. Der Gang blieb leer. Der Mann rang die Hände. »Besuchszeit ist von vier bis sechs, der Herr«, sagte er.
»Dieser Mann ist aber jetzt zu Besuch«, sagte der General. »Sein Nachname ist Lévi.«
Der Krankenpfleger blätterte in einer dicken Kladde auf seinem Tisch. »Frau Lévi liegt im zweiten Stock«, sagte er. »Entbindungsstation. Aber mein Herr, es darf niemand nach oben. Dann werde ich entlassen.«
Der General holte eine Visitenkarte aus einem Lederetui. »Wenn Ihnen irgendjemand Ärger macht, richten Sie ihm aus, er solle das mit mir besprechen.«
»Jawohl, der Herr«, sagte der Pfleger und sackte auf seinen Stuhl zurück.
Der General reichte auch Andras eine Visitenkarte. »Wenn ich sonst noch irgendwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Andras.
»Seien Sie Ihrem Sohn ein guter Vater«, sagte der General und legte Andras eine Hand auf die Schulter. »Auf dass er in einer besseren Zeit leben möge als der unseren.« Kurz hielt er Andras’ Blick, dann machte er kehrt und ging hinaus in den Schnee. Die Tür fiel mit einem Schwung kalter Luft hinter ihm ins Schloss.
Der Krankenpfleger schaute dem General staunend nach. »Wie sind Sie denn zu so einem Freund gekommen?«, fragte er Andras.
»Glück, würde ich sagen«, erwiderte der. »Liegt bei uns in der Familie.«
»So, jetzt gehen Sie«, sagte der Pfleger und wies mit dem Daumen auf das Treppenhaus hinter sich. »Wenn jemand fragt, wer Sie hereingelassen hat, ich war’s nicht.«
Andras hastete die Treppe hinauf in den zweiten Stock und folgte dort den Schildern zu Klaras Station. Im Halbdunkel der Krankenhausnacht lagen in zwei Bettreihen junge Mütter mit Korbwiegen zu ihren Füßen. In einigen Wiegen lagen gewickelte Säuglinge, Neugeborene wurden gestillt oder schlummerten in den Armen ihrer Mütter. Doch wo war Klara? Wo war ihr Bett, und welches der Kinder war sein Sohn? Zweimal lief Andras den Gang hinunter, ehe er sie erblickte: Klara Lévi, seine Frau, blass und mit feuchten Haaren, der Mund geschwollen, die Augen von dunklen Schatten umringt, lag tief schlafend im dunklen Glühen einer grün beschirmten Lampe. Andras schlich näher heran, sein Herz dröhnte, er wollte sehen, was sie in den Armen hielt. Doch als er ihr Bett erreichte, erkannte er, dass es eine leere Decke war, mehr nicht. Das Körbchen zu ihren Füßen war ebenfalls leer.
Er schien den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er war also trotz allem zu spät gekommen. Die Welt hielt kein Glück mehr für ihn bereit; sein Leben und das von Klara waren Trümmer der Trauer. Er hielt die Hand vor den Mund, hatte Angst, dass er laut schreien würde. Jemand legte eine kühle Hand auf seinen Arm; er drehte sich um und sah eine Krankenschwester in einem weißen Kittel.
»Wie sind Sie hereingekommen?«, fragte sie eher verdutzt als böse. »Ist das Ihre Frau?«
»Das Kind«, flüsterte er. »Wo ist er?«
Die Krankenschwester zog die Augenbrauen zusammen. »Sind Sie der Vater?«
Andras nickte stumm.
Sie winkte ihn in den Gang zu einem hell erleuchteten Zimmer voller Wickeltische, Kinderwaagen, Stoffwindeln, Saugflaschen und Schnuller. Zwei weitere Schwestern standen an den Tischen und wechselten Windeln.
»Krisztina«, sagte die Schwester. »Zeigen Sie Herrn Lévi seinen Sohn.«
Die Schwester am Wickeltisch hielt ein winziges rosa Fröschchen hoch, nackt bis auf eine blaue Strickmütze, weiße Socken und einen Verband um den Bauchnabel. Andras sah, wie das Baby eine Faust zum geöffneten Mund führte und das Blütenblatt einer Zunge ausstreckte.
»Großer Gott«, sagte Andras. »Mein Sohn.«
»Zwei Kilo«, sagte die Schwester. »Nicht schlecht für ein so früh geborenes Kind. Er hatte eine kleine Lungeninfektion, der Arme, aber jetzt geht es ihm schon wieder besser.«
»Oh, mein Gott. Darf ich ihn ansehen?«
»Sie können ihn auch halten, wenn Sie möchten«, sagte die Schwester namens Krisztina. Sie steckte
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