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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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dagegen, dass er zurück zur Schule ging. Das Frankreich, in dem er studiert hatte, gab es nicht mehr. Seine Freunde waren in alle Winde zerstreut. Seine Lehrer waren geflohen. Keine Schule in Ungarn würde ihm die Tür öffnen. Kein freies Land würde ihn über die Grenze lassen. Der Krieg wurde täglich schlimmer. Inzwischen war ihr aller Leben in Gefahr. Andras vermutete, dass es nicht mehr lange dauerte, bis Budapest bombardiert würde.
    »Schau mich nicht so finster an«, sagte seine Mutter. »Ich bin nicht verantwortlich für die Situation. Ich bin nur deine Anya.«
    Das Kind im Korb begann sich zu rühren. Es drehte den Kopf in der Decke hin und her, verzog das Gesicht zu einem rosa Sternchen und stieß einen Schrei aus. Andras beugte sich über den Korb und nahm den Kleinen heraus.
    »Ich trage ihn ein bisschen im Hof herum«, sagte er.
    »Du kannst ihn nicht mit nach draußen nehmen«, sagte seine Mutter. »Da ist es so kalt, er holt sich den Tod.«
    »Ich will nicht, dass er Klara weckt. Sie ist seit Wochen jede Nacht auf den Beinen.«
    »Na, wenn’s unbedingt sein muss, aber wickel ihn in eine Decke. Und leg dir einen Mantel um die Schultern. Hier, halt ihn so, und ich setze ihm das Mützchen auf. Pass auf, dass er die Decke über dem Kopf hat, damit er warm bleibt.«
    Andras ließ sich seinen Sohn von seiner Mutter gegen die Kälte einwickeln. »Bleib nicht so lange draußen«, sagte sie und klopfte dem Kind auf den Rücken. »Der schläft sofort ein, wenn du ihn ein, zwei Minuten herumträgst.«
    Es war eine Erleichterung, die Enge und Wärme der Wohnung hinter sich zu lassen. Die Nacht war klar und kalt, eine gefrorene Mondsichel hing an einem unsichtbaren Faden am Himmel; jenseits der dunstigen Stadtlichter konnte Andras die schwachen Eiskristalle der Sterne ausmachen. Er hielt den Säugling an sich gedrückt. Andras spürte das schnelle Heben und Senken der kindlichen Brust an seiner eigenen. Er lief im Hof auf und ab und summte ein Schlaflied, umrundete den Brunnen, wo er mit Klara gesehen hatte, wie das kleine dunkelhaarige Mädchen eine Hand durchs Wasser zog. Das Steinbecken war eisverkrustet. Das Sicherheitslicht im Hof leuchtete bis in die Tiefe des Brunnen, und als sich Andras darüberbeugte, konnte er das feurige Schimmern von Goldfischen unter der Oberfläche erkennen. Dort, unter der Eisdecke, ging das flackernde Leben weiter. Andras hätte gerne gewusst, wie die Fische das schafften, wie sie den verlangsamten Herzschlag, das abgekühlte Blut durch die lange Winterdunkelheit ertrugen.
    Die im Jüdischen Journal veröffentlichten Anzeigen hatten für Andras etwas Weltfremdes. Als stellvertretender Grafikredakteur war es seine Aufgabe, die akkurat illustrierten Kästchen am Rand neben den Artikeln anzuordnen; innerhalb der umrandeten Rechtecke, in denen Kleidungsstücke, Schuhe und Seife, Damendüfte und Hüte angepriesen wurden, schien der Krieg nicht zu existieren. Es war ihm nicht möglich, die Werbung für Abendschuhe aus Korduanleder mit der Vorstellung in Einklang zu bringen, dass Mátyás den Winter unter freiem Himmel irgendwo in der verschneiten Weite verbrachte, möglicherweise ohne ein gutes Paar Stiefel oder die nötigen Lumpen zum Umwickeln der Füße. Es war ihm nicht möglich, die Werbung eines Apothekers über die Vorzüge seiner patentierten Kniebandage zu lesen und nicht daran zu denken, dass Tibor den komplizierten Bruch eines Zwangsarbeiters mit einem Stück Holz aus den Bodenbrettern der Baracke richten musste. Die Symptome des Krieges – der Mangel an Seidenstrümpfen, die Knappheit von Metall, das ausbleibende Angebot amerikanischer und englischer Waren – bestanden eher im Fehlen von Dingen als darin, dass etwas Neues dazugekommen wäre; aber die Stellen, an denen die Werbung für diese Artikel eigentlich erschienen wäre, wurden halt mit anderen Bildchen, anderen Ablenkungen gefüllt. Das Sportwarengeschäft auf der Szerb utca war das einzige, dessen Anzeige sich auf den Krieg bezog, wenn auch hintergründig; es pries die Vorzüge eines Artikels namens »Überlebensausrüstung«, einen Rucksack mit allem, was man für einen Aufenthalt beim Munkaszolgálat brauchte: einen faltbaren Becher, eine klappbare Besteckgarnitur, ein Essgeschirr, eine isolierte Feldflasche, eine dicke Wolldecke, robuste Stiefel, ein Feldmesser, einen wasserdichten Regenmantel, eine Gaslampe, ein Erste-Hilfe-Päckchen. Es war nicht als Zubehör für den Munkaszolgálat gedacht, aber was

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