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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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ging ohne eine Spur von Tibor. An Ilanas erstem Abend nach dem Krankenhausaufenthalt zu Hause brachten Andras und Klara ihr das Schabbesessen. Obwohl sie immer noch erschöpft vom Blutverlust war, hatte sie darauf bestanden, selbst den Tisch zu decken; dort standen Kerzenleuchter, die sie als Hochzeitsgeschenk von Béla und Flóra bekommen hatte, dazu die florentinischen Teller, die ihre Mutter ihr für das Leben in Ungarn geschenkt hatte. Ilana und Klara zündeten die Kerzen an, Andras segnete den Wein, und sie setzten sich zum Essen, während die Säuglinge in ihren Armen schlummerten. Im Raum lag eine tiefe, durchdringende Stille, die von der Architektur selbst ausgestrahlt zu werden schien. Die Wohnung lag im Erdgeschoss, drei schmale Zimmer, die wegen der schweren stützenden Holzbalken noch kleiner wirkten. Im Esszimmer ging eine Doppeltür auf den Hof des Gebäudes, wo ein Fahrradmechaniker einen Friedhof aus verrosteten Rahmen und Lenkstangen, Speichenbündeln und versteinerten Kettenbergen angelegt hatte. Auf Andras wirkte diese schneebestäubte Sammlung wie ein mit Skeletten übersätes Schlachtfeld. Unbewusst starrte er nach draußen, während das Licht blauer und schwächer wurde. Sein Blick huschte zwischen den Schatten umher. Er war derjenige, der als Erster die Gestalt durch die frostige Scheibe erblickte: eine schmale dunkle Silhouette, die sich ihren Weg durch die Fahrräder bahnte, wie ein Geist, der zurückgekommen war, um nach seinen gefallenen Kameraden zu suchen. Zuerst dachte Andras, der Schatten sei nicht mehr als das geronnene Produkt seiner Ängste; als er sich in eine vertraute Gestalt zu verwandeln begann, vermutete er, sie sei Ausdruck seiner Wünsche. Er zögerte, Ilana darauf aufmerksam zu machen, weil er anfangs glaubte, er würde es sich nur einbilden. Doch die Gestalt näherte sich dem Fenster und betrachtete eine Weile die Szene hinter der Scheibe – Andras am Kopfende des Tisches mit Klara an seiner Seite, ein Baby an ihrer Brust; Ilana mit dem Rücken zum Hof, den Arm um etwas in einer Decke gelegt –, und die Hand des Geistes flog zu seinem Mund, die Beine knickten unter ihm ein. Es war Tibor, heimgekehrt von seiner Arbeitskompanie. Andras schob den Stuhl nach hinten und lief zur Tür. Im nächsten Augenblick war er bei seinem Bruder im Hof, und die beiden saßen im Schnee inmitten des Durcheinanders zerstückelter Fahrräder, und dann waren die Frauen bei ihnen, und kurz darauf hielt Tibor seinen Sohn und seine Frau in den Armen.
    Tibor. Tibor.
    Sie riefen seinen Namen mit ekstatischem Nachdruck, als wollten sie sich überzeugen, dass er Wirklichkeit war, dann brachten sie ihn ins Haus. Im schwachen Licht des Wohnzimmers war Tibor leichenblass. Seine kleine Brille mit dem Silbergestell war verschwunden, die Knochen seines Gesichts waren ein kantiges Gerüst unter der Haut. Sein Mantel hing in Fetzen, seine Hose war steif vor Eis und getrocknetem Blut, die Stiefel eine Katastrophe aus zerschlissenem Leder. Seine Militärmütze war fort. An ihrer Stelle trug er eine wollgefütterte Motorradkappe, der eine Ohrenklappe fehlte. Das freigelegte Ohr war tiefrot vor Kälte. Tibor zog die Kappe vom Kopf und ließ sie zu Boden fallen. Sein Haar sah aus, als sei es Wochen zuvor mit einer stumpfen Schere vom Schädel gesägt worden. Er hatte den Geruch des Munkaszolgálat an sich, den Mief von Männern, die ohne ausreichend Wasser, Seife und Zahnputzpulver zusammenlebten. Dieser Gestank vermischte sich mit dem schwefeligen Dunst von Braunkohlequalm und dem Kot-Sägemehl-Pesthauch der Güterwagen.
    »Ich will den Jungen sehen«, sagte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern, so als hätte er sie seit Tagen nicht benutzt.
    Ilana gab ihm das Kind in seinem weißen Gewickel aus Decken. Tibor legte seinen Sohn aufs Sofa und kniete sich davor. Er nahm die Decke und das Mützchen vom feinen dunklen Haar des Säuglings, zog ihm das langärmelige Baumwollhemdchen aus, das kleine Höschen, die Socken, die Windel; dabei war das Baby still und schaute mit großen Augen, die Händchen zu Fäusten geballt. Tibor berührte den getrockneten Rest der Nabelschnur. Er umschloss die Füße des Kleinen, die Hände. Er legte das Gesicht in seine Nackenfalte. Der Junge hieß Ádám. Das hatten Tibor und Ilana in den Briefen vereinbart, die sie ausgetauscht hatten. Diesen Namen sprach er nun aus, als versuche er, seine Vorstellung von diesem Kind und das tatsächlich dort auf dem Sofa liegende Baby in

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