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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Einklang zu bringen. Dann schaute er zu Ilana auf.
    »Ilanka«, sagte er. »Es tut mir so leid. Ich wollte rechtzeitig zu Hause sein.«
    »Nein«, sagte sie und beugte sich zu ihm vor. »Wein bitte nicht.«
    Doch er weinte. Keiner konnte etwas dagegen tun. Tibor weinte, und sie setzten sich zu ihm auf den Boden, als wären sie alle in Trauer. Aber sie waren nicht in Trauer, damals nicht; sie waren zusammen, die sechs, in einer Stadt, die noch keine Ghettos, keine Brände, keine Bombardierungen kannte. Sie saßen zusammen auf dem Boden, bis Tibor zu weinen aufhörte und tief durchatmen konnte. Mehrmals sog er die Luft kehlig ein und nahm schließlich einen langsamen Zug durch die Nase.
    »Oh, Gott«, sagte er mit einem entsetzten Blick auf Andras. »Ich stinke. Holt mich aus diesen Klamotten heraus.« Er zerrte am Kragen seines zerschlissenen Mantels. »Ich hätte den Kleinen gar nicht anrühren dürfen, ohne mich zu waschen. Ich bin dreckig!« Er stand auf und ging in die Küche, eine Spur steifer Kleidungsstücke hinter sich herziehend. Man hörte, wie die Badewanne mit einem Scheppern auf die Küchenfliesen gestellt wurde, dann das Rauschen von Wasser in der Spüle.
    »Ich helfe ihm«, sagte Ilana. »Nehmt ihr das Kind?«
    »Gib ihn mir!«, sagte Klara und reichte Tamás an Andras weiter. So saßen sie zusammen auf dem Sofa, Andras, Klara und die beiden Säuglinge, während Ilana Wasser für Tibors Bad erhitzte. Bis es so weit war, vertilgte Tibor das Abendessen in seinem zerlumpten Unterhemd und der Hose vom Munkaszolgálat. Anschließend zog Ilana ihn aus und wusch ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit einem neuen Riegel Seife. Mandelgeruch zog aus der Küche herüber. Als sie fertig waren, gab Ilana ihrem Mann einen flanellgefütterten Schlafanzug, und er bewegte sich aufs Schlafzimmer zu, als würde er schlafwandeln. Andras folgte ihm zum Bett und setzte sich neben ihn, Tamás in den Armen. Klara war hinter ihm, trug Tibors Sohn. Ilana legte zwei heiße, mit Handtüchern umwickelte Backsteine zu Tibors Füßen ins Bett und zog ihm die Daunendecke hoch bis ans Kinn. Alle setzten sich zu ihm aufs Bett und versuchten zu begreifen, dass er wirklich da war.
    Doch ein Teil von Tibor war noch nicht zurückgekehrt: Als er sich der Schwelle des Schlafes näherte, stieß er plötzlich einen erschrockenen Schrei aus, als sei ihm ein Stein auf die Brust gefallen und habe die Luft hinausgedrückt. Er schaute alle mit weit aufgerissenen Augen an und sagte »Verzeihung«. Dann schlossen sich seine Lider wieder, er trieb erneut davon, machte wieder dieses erschrockene Geräusch – hmmm! – und schoss hoch. »Verzeihung«, wiederholte er, nickte ein und erwachte abermals. Es täte ihm leid. Seine Augenlider schlossen sich, er atmete, er gab den Schrei von sich und schreckte hoch, heimgesucht von etwas, das auf der anderen Seite des Bewusstseins auf ihn wartete. Die anderen blieben eine geschlagene Stunde bei ihm, bis er endlich in einen tieferen Schlaf sank.
    Tibors Lieblingscafé, das Jókai, war verschwunden. An seiner Stelle war nun ein Herrenfriseur mit sechs glänzenden neuen Stühlen und einem Paar schnauzbärtiger Barbiere. An jenem Vormittag übten sie ihr Handwerk an den Köpfen zweier Jünglinge in Militäruniform, die aussahen, als seien sie kaum mit der Oberschule fertig. Sie hatten identisch vorstehende Kinnladen und dieselben spitzen Augenbrauen. Ihre Schuhe auf den Fußstützen der Friseurstühle waren auf dieselbe Weise innen ausgetreten. Sie mussten Brüder sein, wenn nicht sogar Zwillinge. Andras warf Tibor einen Blick zu, der stumm zurückzufragen schien, was sich diese beiden Brüder eigentlich dabei dachten, Kunden bei diesen Friseuren zu sein, die das Jókai Káveház sauber wegrasiert und durch dieses sterile schwarz-weiß geflieste Ladenlokal ersetzt hatten. Es kam nicht infrage, dass Andras und Tibor sich dort versorgen ließen. Der Friseur Jókai war ein Verräter.
    Stattdessen gingen sie die Andrássy út hinunter bis zum Künstlercafé, einem Etablissement im Stil der Belle Époque mit schmiedeeisernen Tischen, bernsteingelben Lampen und einer Vitrine voller Kuchen. Entgegen Tibors Einwänden bestand Andras darauf, ein Stück Sachertorte zu bestellen – es sei zu teuer, zu mächtig, er bekäme höchstens einen Bissen herunter.
    »Du brauchst etwas Mächtiges«, sagte Andras. »Etwas mit guter Butter.«
    Tibor brachte ein mattes Lächeln zustande. »Du hörst dich an wie unsere Mutter.«
    »Wenn das

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