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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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sollten Budapester Bürger sonst mitten im Januar draußen zu suchen haben?
    Was die Beiträge anging, die den Platz zwischen den Anzeigen einnahmen, konnte Andras nur über den unverbesserlichen, kurzsichtigen Optimismus staunen, der dort seinen Ausdruck fand. Diese Zeitung war als Sprachrohr der jüdischen Bevölkerung gedacht, wie konnte sie da im Leitartikel verkünden, dass der ungarische Jude mit der magyarischen Nation eins in Sprache, Geist, Kultur und Gefühl sei, während der ungarische Jude tatsächlich doch an die Front getrieben wurde, um Minen zu räumen, damit die ungarische Armee vormarschieren und ihren Nazi-Verbündeten helfen konnte? Mendel hatte recht gehabt, was den Inhalt der Zeitung betraf. Alle Nachrichten hatten zum einzig ersichtlichen Ziel, die ungarischen Juden nicht in Panik geraten zu lassen. In Andras’ zweiter Woche bei der Zeitung wurde mit großer Begeisterung verkündet, dass Admiral Horthy die standhaftesten deutschfreundlichen Mitglieder seines Kommandostabs hinausgeworfen hatte; das sei ein handfester Beweis für die Solidarität der ungarischen Führungsebene mit dem jüdischen Volk.
    Doch das Journal war nicht die einzige Zeitung in der Stadt, und die kleineren, linkslastigen, unabhängigen Blätter brachten Nachrichten, in der die Welt zum Ausdruck kam, wie Andras sie beim Arbeitsdienst kennengelernt hatte. Es gab Berichte von Massakern in Kamenets-Podolsk, kurz nachdem Ungarn in den Krieg gegen die Sowjetunion eingetreten war; eine Zeitung druckte ein anonymes Gespräch mit einem Mitglied des ungarischen Pionierzuges, ein Mann, der Zeuge einer Massenhinrichtung gewesen war und seit seiner Rückkehr von Schuldgefühlen geplagt wurde. Dieser Soldat berichtete, die ungarische Zentralbehörde zur Überwachung von Ausländern hätte Juden fragwürdiger Staatsbürgerschaft zusammengetrieben, dann seien die Verhafteten den deutschen Behörden in Galizien übergeben und nach Kolomyya transportiert worden, wo sie unter Aufsicht von SS -Einheiten und dem Pionierzug des ungarischen Zeugen fünfzehn Kilometer zu mehreren Bombenkratern bei Kamenets-Podolsk marschieren mussten. Dort wurden alle erschossen, zusammen mit der ansässigen jüdischen Bevölkerung von Kamenets-Podolsk – insgesamt 23 000 Juden. Das Motiv dabei sei gewesen, Ungarn von fremden Juden zu säubern, doch viele der getöteten Juden waren Ungarn, die einfach nur nicht schnell genug ihre Staatsbürgerschaftsnachweise hatten vorlegen können. Das hatte dem Ungarn, der mit der Zeitung gesprochen hatte, offenbar die meisten Skrupel bereitet: Er hatte seine eigenen Landsleute kaltblütig getötet. Es schien also doch so, als ob die Ungarn eine gewisse Solidarität mit ihren jüdischen Brüdern empfanden, auch wenn die Solidarität im Fall des Zeugen nicht groß genug gewesen war, um ihn davor zu bewahren, den Abzug zu betätigen.
    In der letzten Februarwoche wurde dann in der Stimme des Volkes ein Bericht über ein weiteres Massaker an Juden veröffentlicht, diesmal im Délvidék, dem Streifen Jugoslawiens, den Hitler zehn Monate zuvor an Ungarn zurückgegeben hatte. Ein gewisser General Feketehalmy-Czeydner, berichtete die Zeitung, habe unter dem Vorwand, Tito-Partisanen aufzustöbern, die Exekution Tausender Juden angeordnet. Langsam trafen Flüchtlinge aus jener Gegend in Budapest ein und erzählten Grauen einflößende Geschichten von den Ermordungen – Menschen waren an den Strand der Donau verschleppt worden, mussten sich in der eisigen Kälte nackt ausziehen, jeweils zu viert auf ein Sprungbrett über ein Loch stellen, das zuvor in das Eis des Flusses gesprengt worden war, und wurden mit Maschinenpistolen ins Wasser gemäht. Eines Tages traf Andras morgens beim Jüdischen Journal ein und fand seinen Chef in der Nachrichtenredaktion vor, stumm und verkrampft vor Schrecken, den Blick auf eine Ausgabe der Stimme des Volkes gerichtet. Er reichte Andras die Zeitung und zog sich ohne ein Wort in sein Büro zurück. Als der Chefredakteur eintraf, folgte der nächste Streit im Glaskasten, doch kein Wort über das Massaker erschien im Jüdischen Journal .
    Später in derselben Woche begab sich Ilana Lévi ins Gróf-Apponyi-Albert-Hospital und brachte einen kleinen Jungen zur Welt. Erst drei Tage zuvor war ein Brief von Tibor gekommen: Er hoffe, vor Mittwochabend von seiner Arbeitskompanie freigestellt zu werden, und habe noch nicht alle Hoffnung aufgegeben, rechtzeitig zur Geburt zu Hause zu sein. Doch das Ereignis kam und

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