Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
Vom Netzwerk:
vollbrachte der Inspektor eine alchemistische Verwandlung der Identität: Er ließ falsche Papiere besorgen, die besagten, dass der junge Jude Eli Polaner, der in seinen Dienst versetzt worden war, an Hirnhautentzündung erkrankt und daran gestorben sei; dann besorgte er einen Satz gefälschter Dokumente, die Polaner zu einem jungen Parteimitglied namens Teobald Kreisel machten, Sekretär im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt. Gemeinsam reisten sie nach Berlin, Polaner verkleidet als Mitarbeiter des Inspektors, und der Deutsche brachte Polaner in einer kleinen hellen Wohnung auf der Behrenstraße unter. Er ließ ihn mit fünfzigtausend Reichsmark in bar und dem Versprechen zurück, so bald wie möglich wiederzukommen und dann Bücher, Zeitschriften und Zeichenutensilien, Grammofonschallplatten und Schwarzmarktdelikatessen mitzubringen – alles, wonach Polaner der Sinn stände. Polaner bat nur um Nachrichten von seiner Familie; er hatte seit dem Eintritt in die Fremdenlegion weder von seinen Eltern noch von seinen Schwestern gehört.
    Der hochrangige Inspektor besuchte ihn, sooft er konnte, brachte die versprochenen Utensilien, Schallplatten und Delikatessen mit, bloß Nachrichten von Polaners Familie förderte er nur langsam zutage. Polaner wartete, wagte sich nur selten aus der Wohnung, dachte an wenig anderes als daran, dass er bald vom Schicksal seiner Eltern und Schwestern erfahren würde. Er hegte die Hoffnung, dass sie eventuell eine Möglichkeit zu emigrieren gefunden hätten, dass sie wider alles Erwarten an einen freundlichen fernen Ort hatten gelangen können, nach Argentinien oder Australien oder Amerika; oder dass der Inspektor sie andernfalls aus jedweder Hölle retten konnte, in die sie gefallen sein mochten, und sie alle gemeinsam in einer neutralen Stadt wiedervereinte, wo sie in Sicherheit wären. Das war keine völlig unberechtigte Hoffnung; schon oft hatte der Inspektor seine Stellung genutzt, um seinen Geliebten und Schützlingen Gefallen zu erweisen. Leider forderten diese zurückliegenden Gefallen in den sechs Monaten, wo Polaner in der Behrenstraße wohnte, ihren Tribut: verschiedene Unregelmäßigkeiten kamen den Vorgesetzten des Inspektors zu Gehör; es wurde gegen ihn ermittelt. Aus Angst um seine Stellung und um Polaners Leben kam der Inspektor zu dem Schluss, dass Polaner das Land auf der Stelle verlassen müsse. Er versprach ihm, ein Visum zu besorgen, das ihm erlaubte, frei im Einflussbereich des Deutschen Reichs zu reisen. Doch was sollte Polaner tun? Wo sollte er hingehen? Er hatte noch immer keine Nachricht von seiner Familie; wie sollte er da ein Ziel aussuchen?
    Später in derselben Woche, der ersten Januarwoche 1943, führten die Nachforschungen des Inspektors über Polaners Familie endlich zu Antworten. Polaners Eltern und Schwestern waren in einem Arbeitslager in Płaszow gestorben – seine Mutter und sein Vater im Februar 1941, seine Schwestern acht und zehn Monate später. Die Nazis hatten sich das Haus der Familie und die Textilfabrik in Krakau angeeignet. Es war nichts mehr übrig.
    An dem Abend, als Polaner diese Nachricht erhielt, hatte er die Waffe von seinem Nachttisch genommen – der Inspektor bestand darauf, dass er zur eigenen Sicherheit eine Pistole besaß – und war auf den Balkon gegangen, wo er in seiner Nachtwäsche in peitschendem, eisigem Wind stand. Polaner hielt sich die Pistole an die Schläfe und lehnte sich über die Brüstung. Der Schnee unter ihm war wie eine Daunendecke, erzählte er Andras: weich, hügelig, blauweiß; Polaner stellte sich vor, in diese saubere Leere zu fallen und im frischen Schnee unterzugehen. Die Waffe in seiner Hand war die Walther P 38 eines SS -Offiziers, ein Rückstoßlader mit einer Patrone im Magazin. Er spannte den Hahn und legte einen Finger um den gekrümmten Abzug, stellte sich vor, wie die Patrone die geniale Architektur seines Schädels zersplitterte. Er wollte bis drei zählen und abdrücken: ejnß, tsvey, draj . Doch als die jiddischen Zahlen in seinem Schädel widerhallten, sah er auf einmal alles ganz klar: Wenn er sich mit dieser Pistole umbrachte, dieser Walther P 38 – wenn er das tat, weil die Nazis seine Eltern und Schwestern auf dem Gewissen hatten –, dann wären sie , die Nazis, diejenigen, die ihn getötet hätten, die das Jiddisch in seinem Kopf zum Schweigen gebracht hätten. Dann wäre es ihnen wirklich gelungen, seine gesamte Familie auszulöschen. Polaner nahm den Finger vom Abzug, sicherte

Weitere Kostenlose Bücher