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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Schwestern, so als würde die Erwähnung seines Verlusts die Tragödie auslösen, vor der sich Andras’ Familie fürchtete. Er bestand darauf, jeden Nachmittag allein zur Dohány-Synagoge zu gehen, um den Kaddisch zu sprechen. Der Tradition nach musste er es ein Jahr lang tun. Doch je mehr Nachrichten aus Polen kamen, desto stärker wurde der Eindruck, als würde niemand vom Trauern ausgenommen, als sei keine Trauerzeit jemals lang genug. Im April hatten die Juden des Warschauer Gettos einen bewaffneten Aufstand gegen die Deportation der letzten 60 000 Einwohner organisiert; niemand hatte damit gerechnet, dass er länger als ein paar Tage dauern würde, doch die Gettokämpfer hielten vier Wochen lang durch. Die Pesti Napló druckte Fotos von Frauen, die Molotowcocktails auf deutsche Panzer warfen, von Truppen der Waffen-SS und polnischen Polizisten, die Häuser in Brand steckten. Der Aufstand zog sich bis Mitte Mai und endete, so wie jeder geahnt hatte, mit der Räumung des Gettos – ein Massaker an den aufständischen Juden und die Deportation der Überlebenden. Am nächsten Tag berichtete die Pesti Napló , dass nach Schätzung der polnischen Exilregierung während des Krieges bisher anderthalb Millionen polnischer Juden gestorben seien. Andras hatte bisher jeden Artikel und jede Rundfunksendung über den Aufstand für Polaner übersetzt, konnte sich jetzt jedoch nicht überwinden, diese Zahl auf Französisch zu nennen, einem bereits trauernden Freund diese schwindelerregende Statistik zu überbringen. Anderthalb Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder: Wie sollte ein Mensch so eine Zahl begreifen? Andras wusste, dass in der Synagoge auf der Dohány utca dreitausend Personen Platz fanden. Um anderthalb Millionen unterzubringen, hätte man das Gebäude mit seinen Bogen und Kuppeln, seiner maurischen Innenausstattung, dem Balkon, den dunklen Holzbänken und dem vergoldeten Thoraschrein fünfhundert Mal nachbauen müssen. Und sich dann vorzustellen, wie jede dieser fünfhundert Synagogen bis auf den letzten Platz besetzt war, sich jeden Mann, jede Frau und jedes Kind darin als einzigartigen, unersetzlichen Menschen vorzustellen, so wie er Mendel Horovitz, Elfenbeinturm oder seinen Bruder Mátyás vor sich sah, jeden Einzelnen mit seinen Wünschen und Ängsten, mit einer Mutter und einem Vater, einem Geburtsort, einem Bett, einer ersten Liebe, einem Netz von Erinnerungen, einem Vorrat an Geheimnissen, einer Haut, einem Herz, einem unendlich hoch entwickelten Gehirn – diese Menschen alle so vor sich zu sehen und sie sich dann tot vorzustellen, für alle Zeit ausgelöscht –, wie sollte man das auch nur ansatzweise begreifen? Der Gedanke konnte einen Menschen verrückt machen. Er, Andras, war noch am Leben, und andere Menschen waren von ihm abhängig; er konnte es sich nicht leisten, den Verstand zu verlieren, und so zwang er sich, nicht darüber nachzudenken.
    Stattdessen stürzte er sich in die Arbeit, die jeden Tag getan werden wollte. Es zeigte sich rasch, dass die Wohnung, die schon voll gewesen war, als die Männer beim Munkaszolgálat waren, seit ihrer Heimkehr viel zu klein geworden war. Tibor und Ilana nahmen sich eine Wohnung auf der anderen Straßenseite, und József zog mit seinen Eltern in eine kleine Wohnung im Nachbarhaus. Polaner blieb bei Andras und Klara, teilte sich ein Zimmer mit Tamás. Für all diese Unterkünfte musste Miete gezahlt werden. Andras arbeitete wieder als Zeitungsillustrator und Grafiker, nicht mehr beim Budapester Jüdischen Journal , sondern beim Abendkurier , Mendels ehemaligem Arbeitgeber, wo eine neue Runde von Zwangsaushebungen die Reihen der Illustratoren ausgedünnt hatte. Er überredete seinen Herausgeber, Polaner ebenfalls einzustellen, indem er von den herausragenden Fertigkeiten schwärmte, die er bei den gemeinsamen Projekten im Architekturstudium bewiesen habe. Tibor für seinen Teil fand eine Stelle als Chirurgieassistent in einem Militärhospital, wo noch immer die Verwundeten von Woronesch behandelt wurden. József, der noch nie für seinen Lebensunterhalt gearbeitet hatte, setzte eine Anzeige in den Abendkurier und wurde ein anständig bezahlter Anstreicher. Klara unterrichtete Privatschüler in ihrem Studio auf der Király utca. Nur noch wenige Eltern konnten sich die volle Gebühr leisten, deshalb gestattete sie ihnen, so viel zu zahlen, wie sie konnten. Gemeinsam verdienten sie den Lebensunterhalt für elf Personen.
    Während Eisenhowers Armeen im

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