Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Juli Rom bombardierten, lag Budapest in überbordender Sommerschönheit am Donauufer, seine Paläste und prächtigen alten Hotels vermittelten ein Gefühl von Beständigkeit. Die sowjetische Bombardierung im vergangenen September hatte jenen verschnörkelten, vergoldeten Gebäuden nichts anhaben können; im Frühjahr waren Überfälle der Alliierten ausgeblieben, und die Flugzeuge der Roten Armee waren nicht zurückgekehrt. Jetzt öffneten sich die geballten Fäuste der Dahlien im Városliget, wo Andras mit Tibor, József und Polaner sonntagnachmittags spazieren ging und mit ihnen spekulierte, wie lange es noch dauern mochte, bis Deutschland kapitulierte und der Krieg endlich vorbei sei. Mussolini war abgesetzt, der Faschismus in Italien zerbröckelte. An der Ostfront vervielfachten und verschärften sich die Probleme der Deutschen: Der Sturm der Wehrmacht auf eine sowjetische Bastion bei Kursk endete mit einer katastrophalen Niederlage, kurz darauf folgten Misserfolge bei Orjol und Charkow. Selbst Tibor, der noch vor einem Jahr vor Wunschdenken gewarnt hatte, gab der Hoffnung Ausdruck, der Krieg möge vorbei sein, bevor er selbst, Andras oder József wieder zum Munkaszolgálat eingezogen würden, und dass die ungarischen Kriegsgefangenen wieder zurückkehren könnten.
Die ungarischen Juden hatten Glück gehabt, wusste Andras. Tausende von Männern waren beim Munkaszolgálat gestorben, aber nicht anderthalb Millionen. Der Rest der jüdischen Bevölkerung hatte den Krieg unversehrt überlebt. Auch wenn Zehntausende ihre Arbeit verloren hatten und so gut wie jeder um seinen Lebensunterhalt kämpfte, durfte ein Jude dennoch zumindest ein Geschäft führen, eine Wohnung besitzen und in die Synagoge gehen, um für die Toten zu beten. Seit über anderthalb Jahren gelang es Premierminister Kállay, Hitlers Forderungen nach strengeren Maßnahmen gegen die ungarischen Juden zu umgehen; mehr noch, seine Regierung hatte begonnen, für die bisher im Krieg verübten Verbrechen den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er hatte eine Untersuchung des Délvidék-Massakers in Auftrag gegeben und geschworen, die Schuldigen der Strafe zuzuführen, die sie verdienten. Und bevor General Vilmos Nagybaczoni Nagy das Verteidigungsministerium aus der Hand gab, hatte er gefordert, dass die Offiziere, die den Schwarzmarkt des Militärs kontrollierten, vor Gericht gestellt würden.
Doch Andras war nicht nur von Tibor, sondern auch von den Ereignissen des vergangenen Jahres in Skepsis geschult worden; trotz der hoffnungsfrohen Nachrichten war es ihm unmöglich, ein gewisses Gefühl der Furcht abzuschütteln. Weitere Geschehnisse verstärkten es. Als er im Herbst den Schwarzmarktprozess in der Zeitung verfolgte, wurde schnell deutlich, dass die angeklagten Offiziere, falls man sie denn tatsächlich verurteilte, nur formale Strafen erhalten würden. Und Hitler, dessen Truppen in den Sommermonaten so verletzlich gewirkt hatten, hielt den Angriffen der Alliierten südlich von Rom stand und sicherte die Südgrenze des deutschen Reichs. In Russland hetzte der Führer weiterhin seine Truppen in den Schlund der Roten Armee, als sei eine Kapitulation undenkbar.
Und dann das Ausbleiben von Nachrichten über Mátyás, der jetzt seit zweiundzwanzig Monaten vermisst wurde. Wie konnte noch irgendjemand glauben, dass er überlebt hatte? Doch Tibor glaubte weiter daran, auch Andras’ Mutter glaubte es, und obwohl sein Vater nicht davon sprach, wusste Andras, dass auch er es glaubte; solange das noch einer von ihnen tat, konnte keiner den bloßen Trost der Trauer beanspruchen.
Des Jahres letzter Akt der Wiedergutmachung betraf die Familie Hász und die Erpressung, die ihr Vermögen auf so gut wie null reduziert hatte. Als Györgys monatliche Zahlungen auf wenige hundert Forint geschrumpft waren, beschlossen die Erpresser, dass die Vorzüge der Abmachung das Risiko nicht mehr wert seien. Die Regierung Kállay war bestrebt, Korruption auf allen Ebenen und in allen Bereichen aufzudecken; siebzehn Angestellte des Justizministeriums waren bereits wegen finanzieller Unstimmigkeiten vor Gericht gestellt worden, Györgys Erpresser hatten Angst, die Nächsten zu sein. Am 25. Oktober bestellten sie ihn deshalb zu einem mitternächtlichen Treffen in den Keller des Justizministeriums. An jenem Abend wachten Andras und Klara bei Klaras Mutter, Elza und József in dem kleinen dunklen Vorderzimmer von deren Wohnung. József rauchte eine Zigarette nach der anderen,
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