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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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den Hahn und holte das Magazin aus der Pistole. Es war die Patrone und nicht Polaner selbst, die drei Stockwerke hinunter in die Daunendecke aus Schnee fiel.
    Am nächsten Morgen setzte er Budapest als Ziel fest, in der Hoffnung, dort Andras zu finden. Der hochrangige Inspektor besorgte Polaner die Papiere und Unterlagen, die notwendig waren, um in Ungarn einen festen Wohnsitz zu bekommen; er organisierte ihm sogar ein ärztliches Attest, das Polaner aufgrund einer chronischen Lungenschwäche für untauglich zum Militärdienst erklärte. Er gab Polaner zwanzigtausend Reichsmark und setzte ihn in ein Privatabteil der Bahn. Als Polaner in Budapest eintraf, suchte er die große Synagoge auf der Dohány utca auf, wo er einen alten Sekretär fand, der Jiddisch sprach; er machte ihm verständlich, dass er Andras Lévi suche, und der Sekretär schickte ihn zum Budapest Izraelita Hitközség, wo man ihm Andras’ Adresse auf der Nefelejcs utca gab. Klara hatte ihn aufgenommen, und seitdem war er hier. Erst vor einer Woche hatte er seine offiziellen ungarischen Papiere erhalten, die er jetzt aus einer braunen Mappe holte, so als wolle er Andras beweisen, dass seine Geschichte stimmte. Andras klappte Polaners Pass auf. Teobald Kreisel. Fester Wohnsitz. Das Foto zeigte einen schmalen, hohläugigen Polaner, noch blasser und heftiger vom Grauen gezeichnet als der junge Mann, der Andras jetzt am Tisch gegenübersaß. Der Pass war so steif und sauber wie der von Andras, als er nach Paris aufgebrochen war; ihm fehlte nur das verräterische Zs für Zsidó . Die braune Mappe enthielt zudem einen Parteiausweis mit dem Gespenst eines Hakenkreuzstempels, der Teobald Kreisel als Mitglied der nsdap auswies.
    »Diese Papiere werden dir gute Dienste erweisen«, sagte Andras. »Dein deutscher Freund wusste, was er tat.«
    Polaner rutschte auf seinem Stuhl herum. »Das ist unanständig: ein Jude, der sich als Nazi ausgibt.«
    »Mein Gott, Polaner! Niemand würde dir diesen Betrug übel nehmen! Er bewahrt dich zumindest vorm Munkaszolgálat, und ich weiß, was das wert ist.«
    »Aber du musstest jahrelang dienen. Und wenn der Krieg weitergeht, musst du wieder hin.«
    »Du hast deinen Teil getan«, sagte Andras. »Für dich war es viel schlimmer als für mich.«
    »Das kann man unmöglich gegeneinander aufrechnen«, sagte Polaner.
    Doch es gab Zeiten, wo es möglich war, Leid aufzurechnen, wusste Andras. Er, Andras, war nicht vergewaltigt worden. Er hatte weder sein Land noch seine Familie verloren. Klara schlummerte im Schlafzimmer, neben ihrem gemeinsamen Sohn. Tibor und Ilana lagen auf einer Matratze im Wohnzimmer, hielten sich in den Armen. Ihren Eltern in Debrecen ging es verhältnismäßig gut. Mátyás mochte immer noch am Leben sein, irgendwo jenseits der ungarischen Grenze. Polaner hingegen hatte alles und jeden verloren. Andras dachte an das gemeinsame Essen zu Rosch ha-Schana vor fünfeinhalb Jahren in der Studentenkantine – als Andras mit Polaner darüber gesprochen hatte, wie schwer es Müttern fiel, ihre Söhne ziehen zu lassen, sie so weit weg in der Fremde zu wissen. Polaners liebende Mutter: Es gab sie nicht mehr. Ihr Mann war nicht mehr, ihre Töchter waren fort. Und Andras Lévi und Eli Polaner – diese beiden Jungen, die zwei Jahre lang in Paris über einen Krieg diskutiert hatten, der kommen mochte oder auch nicht, die Tee im La Colombe Bleue getrunken und einen Sportclub in der Mitte des Quartier Latin entworfen hatten –, auch sie gab es nicht mehr, auch sie waren fort, waren zu diesen vernarbten, ausgehöhlten Männern geworden. Und Andras legte den Kopf auf Polaners Arm und trauerte um das, was unwiederbringlich verloren war.
    Den ganzen Frühling über warteten sie auf Nachricht von Mátyás. Als sie Pessach feierten, bestand Andras’ Mutter darauf, einen Platz für ihren jüngsten Sohn zu decken; als sie die Tür öffneten, um Elias zu begrüßen, riefen sie auch Mátyás heim. In der Zeit, die Andras in Galizien verbracht hatte, waren seine Eltern alt geworden. Das Haar seines Vaters war nicht mehr grau, sondern weiß. Der Rücken seiner Mutter war rund geworden. Sie krümmte sich in den Schutz ihrer Strickjacke wie ein trockener Grashalm. Selbst der Anblick von Tamás und Ádám konnte sie nicht aufheitern; sie sehnte sich nicht nach ihren Enkelkindern, sondern nach ihrem verlorenen Sohn.
    Polaner, der wusste, was es hieß, auf Nachricht zu warten, trauerte still mit ihnen. Nie sprach er über seine Eltern oder

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