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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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den schweren Tritt der Wachen, sondern zögernde Schritte und ein vorsichtiges Klopfen an den Außenseiten der Waggons.
    »Fredi Paszternak?«
    »Geza Mohr?«
    »Semyon Kovács?«
    Niemand antwortete. Inzwischen waren alle wach, stumm vor Angst. Wenn diese Menschen erwischt wurden, würden sie getötet. Jeder kannte die Konsequenzen.
    Nach kurzer Zeit gingen die Schritte weiter. Noch mehr Suchende kamen näher. Rubin Gold? György Törönyi? Die geflüsterten Namen waren ein unablässiges Rauschen; man hörte leise, aufgeregte Stimmen aus einem anderen Waggon, wo jemand den Gesuchten gefunden hatte. Dann die nächste Welle von Fragenden: Andras Lévi? Tibor Lévi?
    Andras und Tibor drängten sich an die Wand und riefen mit unterdrückten Stimmen nach ihren Eltern: Anyu, Apu. Die Koseform, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr benutzt hatten. Andras und Tibor, in dieser Extremsituation durch die unfassbare Nähe und Unberührbarkeit ihrer Mutter Flóra und ihres Vaters Béla wieder zu Kindern geworden. Im Güterwagen schoben sich die Männer beiseite, um ihnen Platz zu geben, eine gewisse Intimität auf diesem begrenzten Raum.
    »Andi! Tibi!« Die Stimme ihrer Mutter, verzweifelt vor Schmerz und Erleichterung.
    »Wie seid ihr hergekommen?«, fragte Tibor.
    »Dein Vater hat einen Polizisten bestochen«, sagte ihre Mutter. »Wir hatten offiziellen Geleitschutz.«
    »Ist alles in Ordnung, Jungs?« Wieder die Stimme des Vaters, mit einer Frage, deren Antwort bekannt war und auf die Andras und Tibor nur mit einer Lüge reagieren konnte. »Wisst ihr, wo ihr hingeschickt werdet?«
    Sie wussten es nicht.
    Es war nur wenig Zeit zum Reden. Wenig Zeit für Béla und Flóra, das zu tun, weshalb sie gekommen waren. Ein Paket erschien vor den Stangen des einzigen hohen Fensters, mit braunem Zwirn an einen Metallhaken geknotet. Es war zu groß, um durch die Stangen hindurchzupassen, musste wieder heruntergenommen und in seine Bestandteile zerlegt werden. Zwei Wollpullover. Zwei Schals. Prall gefüllte Esspakete. Ein Geldbündel: zweitausend Pengő. Wie hatten sie das gespart? Wie hatten sie das verstecken können? Und zwei Paar robuster Stiefel, die zurückgelassen werden mussten; sie passten einfach nicht durch das Fenster.
    Dann wieder die Stimme ihres Vaters, der das Reisegebet sprach.
    Flóra und Béla hasteten durch die dunklen Straßen nach Hause, jeder mit einem Paar robuster Stiefel unterm Arm. Hinter ihnen ging der bestochene Polizist, ein ehemaliges Mitglied aus Bélas Schachclub, der jedem von ihnen eine Hand auf die Schulter legte, als seien sie verhaftet. Er hatte dafür gesorgt, dass sie durch einen Keller, der zwei Gebäude verband – eines im Getto, eines außerhalb –, nach draußen schlüpfen konnten. Andere waren auf dieselbe Art herausgekommen und sicher zurückgekehrt, auch wenn einige noch nicht wieder da waren, man noch nichts von ihnen gehört hatte. Sie waren diesem Polizisten völlig ausgeliefert. Béla hatte mit ihm ein paarmal Schach gespielt und ein paar Bier getrunken. Doch die beiden hatten nur wenig Angst vor dem, was jetzt noch passieren mochte, beispielsweise an weniger verständnisvolle Angehörige der Polizei von Debrecen zu geraten. Nun da sie das Essen, die Pullover, das Geld übergeben hatten, da sie ein paar Worte mit den Jungen gewechselt, ihnen ihren Segen gegeben hatten, was war da noch wichtig? Was wäre es für eine Verschwendung gewesen, wenn sie mit den Paketen in den Händen geschnappt worden wären! Doch sie hatten Glück gehabt; die Straßen waren fast leer gewesen, als sie das Getto verließen. Bélas Informationsquellen, ein Vorarbeiter vom Verladebahnhof, den er schon lange kannte, und der Wirt namens Rudolf, hatten sich als zuverlässig erwiesen. Der Zug war genau dort, wo er sein sollte, und die Wachen vom Bahnhof hatten sich zum Trinken versammelt, für das Rudolf das Bier geliefert hatte. Rudolf kannte Andras noch von seinem Besuch im Brauhaus, von jenem Abend, als er sich mit seinem Vater über Klara gestritten hatte. Was war das für ein Luxus gewesen, dachte Glücks-Béla nun, die Zeit und die Muße für einen Streit gehabt zu haben. Er hatte seinen Sohn dafür bewundert, wie er seine Frau verteidigt hatte. Schließlich hatte er recht gehabt: Klara passte gut zu ihm – genauso gut, so schien es, wie Flóra zu Béla passte. Glück. Ja, er hatte Glück, selbst jetzt. Flóra war an seiner Seite, die Hand des Polizisten auf ihrer Schulter – seine Frau, die Mutter seiner

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