Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Söhne, die mitten in der Nacht ihr Leben für sie aufs Spiel setzte, trotz Bélas Protesten; niemals hätte sie ihn allein gehen lassen.
Schließlich brachte der Polizist sie zu dem Hof, von dem es in den Keller ging. Mit veralteter, unpassender Höflichkeit hielt er die Tür auf, als sie in den Tunnel zurück zu ihrem abgekapselten Leben krochen. Kurz darauf erreichten sie ihr Haus und stiegen die Treppen zu ihrer Wohnung empor, wo sie sich wortlos im Dunkeln entkleideten. Es waren nur noch wenige Stunden Schlaf, bis sie sich zu ihrem eingeschränkten Tagwerk erheben würden. Im Bett zog Flóra die Decke bis ans Kinn und stieß einen Seufzer aus. Es gab nichts mehr, was sie zueinander sagen konnten, nichts mehr zu tun. Ihre Kinder, ihre Babys. Die drei Kleinen, wie sie sie immer genannt hatten. Die drei Kleinen trieben über den Kontinent, dem Schicksal ausgesetzt wie Holzboote. Flóra drehte sich um und legte den Kopf auf Bélas Brust, und er streichelte ihr langes silbernes Haar.
Noch einige Wochen würden sie dieses Bett miteinander teilen, während die Juden aus dem Verwaltungsbezirk Hajdú in Debrecen gesammelt wurden. Dann würden sie eines späten Junimorgens, wenn die Kapuzinerkresse auf dem Balkon ihre Kelche öffnete und die weißen Ziegen im Hof meckerten, die Treppen hinuntersteigen, jeder mit einem einzigen Koffer, und würden mit ihren Nachbarn durch die Tore des Gettos gehen, die vertrauten Straßen entlang bis zur Ziegelei Serly westlich der Stadt, wo man sie in einen Zug verladen würde, fast identisch mit dem, der ihre Söhne wer weiß wohin gebracht hatte. Der Zug würde Richtung Westen rollen, durch die Bahnhöfe mit den Fenstern voller Geranien; er würde durch Budapest rollen, weiter nach Westen. Dann würde er nach Norden schwenken, weiter nach Norden, immer weiter, bis sich seine Türen in Auschwitz öffneten.
Der Zug mit Andras, Tibor und József rollte nach Osten an die Landesgrenze. Dort, in einer karpatenukrainischen Stadt, deren Name sich zweimal änderte, da sie erst wieder Teil der Tschechoslowakei wurde und dann an die Sowjetunion fiel, wurden sie von bewaffneten Wachleuten zu einem Lager gebracht, drei Kilometer entfernt von der Theiß. Ihre Aufgabe bestand darin, Holz auf Frachtschiffe zu laden, das durch Ungarn nach Österreich transportiert wurde. Die Männer wurden in eine fensterlose Schlafbaracke mit fünf Reihen dreistöckiger Feldbetten gesteckt; draußen verlief entlang des Gebäudes eine Reihe von Becken, an denen man sich waschen konnte. Zum Abendessen tranken sie einen Kaffee, der kein Kaffee war, aßen eine Suppe, die keine Suppe war, und erhielten hundert Gramm trockenes Brot, das sie auf Tibors Geheiß für den nächsten Tag aufbewahrten. Es war der fünfte Juni, eine milde Nacht, die nach Regen und jungem Gras roch. Die Kampfhandlungen hatte die nahe Grenze noch nicht erreicht. Die Männer durften nach dem Essen draußen sitzen; ein Mann, der eine Geige dabeihatte, spielte Zigeunermelodien, ein anderer sang dazu. Andras konnte nicht wissen – und keiner von ihnen würde es in den nächsten Monaten erfahren –, dass in derselben Nacht eine Flotte alliierter Schiffe die Küste der Normandie erreichte und Tausende von Soldaten sich unter hagelndem Geschützfeuer ans Ufer kämpften. Selbst wenn die Männer es gewusst hätten, hätten sie nicht zu hoffen gewagt, dass die Invasion der Alliierten in Frankreich eine ungarische Arbeitskompanie vor den Schrecken der deutschen Besatzung oder ihren Abschnitt der Theiß davor bewahren konnte, bombardiert zu werden, wenn sie gerade Frachtkähne beluden. Selbst wenn sie von der Invasion gewusst hätten, wären sie klüger gewesen, als von einem Umstand auf einen anderen zu schließen, saubere Kausalzusammenhänge zwischen einem Strand bei Vierville-sur-Mer und einem Zwangsarbeiterlager in der Karpatenukraine zu konstruieren. Sie kannten ihre Situation; sie wussten, wofür sie dankbar zu sein hatten. Als Andras sich am Abend in sein Holzbett legte, Tibor über ihm und József unter ihm, dachte er nur: Zumindest heute sind wir zusammen. Heute leben wir.
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40.
Albtraum
WAS IHN AM ENDE AM MEISTEN verwunderte, war nicht das gewaltige Ausmaß von allem – das war unmöglich zu begreifen, die Hunderttausende von Toten allein aus Ungarn, die Millionen von Toten in ganz Europa –, sondern wie unerträglich winzig die schmale Schneide war, auf der jedes Leben stand. Die winzigste Kleinigkeit mochte die Waagschale
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