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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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kippen: Läuse, die Typhus übertrugen, ein paar Fingerhut voll Wasser als Rest in der Feldflasche, der Staub von Brotkrumen in einer Tasche. Am zehnten Januar, in der kühlen, verworrenen Dämmerung des Jahres 1945, lag Andras auf dem Boden eines Güterwaggons in einem ungarischen Quarantänelager, wenige Kilometer entfernt von der österreichischen Grenze. Die nächste Stadt war Sopron mit seiner berühmten Ziegenkirche. Eine neblige Kindheitserinnerung – eine Stunde in Kunstgeschichte, ein weißhaariger Lehrer mit einem Schnurrbart wie die körperlosen Flügel einer Taube, ein Bild der aus Stein gemeißelten Kanzel, wo Ferdinand III . zum König von Ungarn gekrönt worden war. Der Legende nach hatte eine Ziege an jener Stelle einen alten Schatz ans Tageslicht befördert; der Schatz war wieder vergraben worden, als man die Kirche baute, eine Huldigung an die Jungfrau Maria. Und so schimmelte irgendwo im Hügel unter der Kirche, deren geschwärzter Turm von Andras’ Platz aus zu sehen war, ein alter Schatz vor sich hin; und im Quarantänelager starben dreitausend Menschen an Typhus oder Ruhr. Andras schwang sich empor in die schwindelerregenden Höhen eines Fiebers, durch das seine Gedanken im Karnevalskostüm paradierten. Schwach konnte er sich erinnern, dass jemand gesagt hatte, die Männer in Quarantäne könnten eigentlich von Glück sagen. Die Gesunden waren über die österreichische Grenze in ein Arbeitslager gebracht worden.
    Einige Dinge begriff er. Er zählte seine Gewissheiten wie Murmeln in einem Beutel, jede mit einem gewundenen Band aus blut- oder wasserfarbenem Glas. Der Bogen der Theiß, wo sie arbeiteten, war tatsächlich bombardiert worden. Es war ein ungewöhnlich warmer Abend Ende Oktober gewesen, fast fünf Monate nach ihrer Ankunft im Lager. Andras erinnerte sich, in der Dunkelheit neben Tibor und József gekauert und gespürt zu haben, wie die Wände erschauderten und Erschütterungen in Wellen durch den Boden rollten; nur durch einen Gnadenakt, so schien es, war ihr Gebäude unversehrt geblieben. Dreiunddreißig Männer waren in einer zusammengebrochenen anderen Schlafbaracke zerquetscht worden. Sechs Kahnführer und eine halbe Kompanie ungarischer Soldaten, die in der Nacht ihr Quartier am Flussufer aufgeschlagen hatten, waren getötet worden. Die auseinandergerissene 55/10 war vor der vorrückenden Sowjetarmee nach Westen geflohen. Wochenlang hatten die Wachleute die Zwangsarbeiter von einem Ort in den nächsten geschmuggelt, sie in Verschlägen oder Scheunen oder auf dem freien Feld untergebracht, während der Krieg polterte und loderte, jeweils nur wenige Kilometer entfernt. Ungarn war mittlerweile in die Hände der Pfeilkreuzler gefallen. Horthy war für Deutschland zu schwer kontrollierbar gewesen; unter dem Druck der Alliierten hatte er die Deportation der Juden abgebrochen und am elften Oktober heimlich ein eigenes Friedensabkommen mit dem Kreml ausgehandelt. Als er einige Tage später den Waffenstillstand verkündete, hatte Hitler ihn zum Abdanken gezwungen und mit seiner Familie nach Deutschland ins Exil geschickt. Der Waffenstillstand wurde annulliert. Ferenc Szálasi, der Führer der Pfeilkreuzler, wurde Premierminister. Die Nachrichten erreichten die Arbeitsdienstler in Form von neuen Vorschriften: Sie würden jetzt nicht mehr wie Zwangsarbeiter behandelt, sondern wie Kriegsgefangene.
    An diese Dinge konnte Andras sich ganz genau erinnern. Verwirrender war, was danach geschehen war. Im Nebel seines Fiebers zerbrach er sich den Kopf darüber, was mit Tibor passiert war. Er wusste noch, dass er vor Wochen oder vielleicht Monaten zusammen mit Tibor und József an einem strahlenden Tag über eine Straße westlich von Trebišov geflohen war, verfolgt vom Geräusch russischer Panzer und russischen Geschützfeuers. Sie waren von ihrer Kompanie getrennt worden; József war krank gewesen und hatte nicht mithalten können. Deutsche Geländewagen und Panzer fuhren auf der Straße an ihnen vorbei. Dann von hinten, näher kommend, ein Erdbeben: Russen in ihren rollenden Festungen, flammende Waffen. Die drei liefen am Straßenrand entlang, und József war vor einen deutschen Panzerwagen gestolpert. Er wurde in einen Graben geschleudert, sein Bein in einem Winkel verdreht, der – der fiebernde Andras suchte im Dunkeln nach dem richtigen Wort – unrealistisch war. Er war unrealistisch; er stellte nicht das Leben dar. Ein Bein war nicht auf diese Weise oder in diese Richtung zu krümmen.

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