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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Als Andras zu József eilte, lag er mit offenen Augen da und atmete schnell und flach; er schien eine sonderbare Genugtuung zu empfinden, als sei er auf einen Streich in einem Punkt bestätigt worden, den er seit Jahren vertrat, ohne jemanden davon überzeugen zu können. Tibor hockte sich neben ihn, legte vorsichtig die Hand auf das Bein, und József gab ein Geräusch von sich, das Andras nie vergessen würde: ein heiseres dreistimmiges Kreischen, das die Himmelkuppel aufzureißen schien. Tibor zog die Hand zurück und warf Andras einen verzweifelten Blick zu: Das Morphium war ihm ausgegangen, der in Budapest gehortete Vorrat erschöpft. Nur wenig später, so kam es Andras vor, war ein olivgrüner Lastwagen aufgetaucht, österreichische Truppenfahnen wehten an den Stoßstangen, ein rotes Kreuz prangte auf der Seite. Andras riss die gelbe Binde von seinem Ärmel, von Józsefs und Tibors Ärmeln; jetzt waren sie lediglich drei Männer im Straßengraben, ohne Identität. Österreichische Ärzte eilten herbei, stellten fest, dass alle drei dringend medizinischer Behandlung bedurften, und luden sie in den Lastwagen. Kurz darauf bewegten sie sich in unglaublicher Geschwindigkeit über die Straße – immer noch auf der Flucht vor den Russen, vermutete Andras. Dann gab es eine ohrenbetäubende Explosion, eine gleißende Detonation. Die Plane des Lastwagens wurde weggerissen, der Boden wurde zum Himmel, ein Reifen malte einen Bogen vor den Hintergrund aus Wolken. Ein erschütternder Aufprall. Dröhnende Stille. Irgendwo in der Nähe rief József nach seinem Vater, ausgerechnet. Tibor stand unverletzt zwischen trockenen Getreidehalmen, wischte sich Schnee von den Ärmeln. Andras lag, ein wilder weißer Schmerz in seiner Seite, in einer Ackerfurche und starrte in den Himmel, ein unbegreiflich hohes Milchblau, das sich unendlich über ihm erstreckte. In seiner Erinnerung nahm eine Wolke die Form des Panthéons an, flüchtige Säulen, eine Kuppel. Kurz drauf verschwanden das milchige Blau und jene Kuppel in einer alles verzehrenden Dunkelheit.
    Später hatte er die Augen aufgeschlagen und eine so blendende Vision gehabt, dass er sicher war, tot zu sein. Schneeweiße Wände, schneeweißes Bettgestell, schneeweiße Vorhänge, schweeweißer Himmel vor dem Fenster. Allmählich begriff er, dass er in einem Krankenhausbett lag, unter dem unerträglichen Gewicht einer dünnen Baumwolldecke. Ein Arzt mit einem jugoslawischen Namen, Dobek, entfernte einen Verband von Andras’ Seite und untersuchte eine rot gezahnte Wunde, die sich von seiner untersten Rippe bis kurz über seinen Bauchnabel erstreckte. Ihr Anblick löst eine derart heftige Welle von Übelkeit aus, dass Andras sich panisch nach einer Bettpfanne umsah, und diese Bewegung verursachte einen schneidenden Schmerz. Der Arzt bat Andras, sich nicht zu rühren. Andras verstand ihn, auch wenn er ihn in einer Sprache ermahnte, die er nicht kannte. Er ließ sich zurücksinken und fiel in einen traumlosen Schlaf. Als er erwachte, saß Tibor in einem Stuhl an seinem Bett, die Brille intakt, das Haar sauber, das Gesicht gewaschen, seine Arbeitsdienstlumpen gegen einen Baumwollpyjama getauscht. Andras sei verwundet worden, erklärte er; der Rote-Kreuz-Wagen sei über eine Mine gefahren. Er habe notoperiert werden müssen. Seine Milz sei beschädigt gewesen, der Dünndarm nahe dem Enddarm durchtrennt; doch es wäre alles geflickt worden, er befände sich auf dem Weg der Besserung. Wo sie wären? In Kassa, in der Slowakei, in einem katholischen Krankenhaus namens St. Elisabeth, geleitet von slowakischen Nonnen. Und wo József sei? Der läge auf einer benachbarten Krankenstation; sein Bein sei zerschmettert worden, er hätte eine komplizierte Operation hinter sich.
    Eine unbestimmte Zahl von Wochen verbrachten sie in jenem slowakischen Krankenhaus, József und er; Andras lag dort und erholte sich von seiner schweren Verletzung und József von seinem komplizierten Bruch, während in der Nähe der Krieg wütete. Tibor kam und ging. Er half den Nonnen, den Ärzten, arbeitete an ihrer Seite, assistierte bei Operationen, beurteilte die Dringlichkeit der neu eintreffenden Fälle. Er war erschöpft vom Anblick der von Kugeln und Bomben verheerten Körper, doch er hatte einen ruhigen, entschlossenen Gesichtsausdruck: Er tat das, wozu er ausgebildet worden war. Die Russen rückten voran, erzählte er Andras, langsam, aber stetig. Wenn das Krankenhaus den Ansturm überstehen könnte, wären sie

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