Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
vielleicht bald in Sicherheit.
Doch dann kamen die Nazis und räumten das Krankenhaus. Evakuieren war das Wort, das sie benutzten, obwohl die Bedeutung nicht für jeden dieselbe war. An diesem Ort, wo man nie einen Patienten nach seiner Religion gefragt hatte, wo nicht zwischen Christen und Juden unterschieden worden war, wurden die Juden nun sondiert und in einen Gang gedrängt. Andras und Tibor stützten József zwischen sich, der ein sperriges Gipsbein hatte, und die drei mussten zu einem Zug marschieren, wo sie in einen Güterwaggon verfrachtet wurden. Wieder fuhren sie los ins Unbekannte, diesmal nach Südwesten, Richtung Ungarn.
Fast eine Woche lang reisten sie durch das Land. Von den Rufen, die Tibor bei den Zwischenstopps hörte, oder von den Ausschnitten, die er durch das kleine Fenster in der verriegelten Tür sehen konnte, schloss er so viel wie möglich über ihren jeweiligen Aufenthaltsort. Sie waren in Alsózsolca, dann in Mezökövesd, dann in Hatvan; kurz keimte wilde Hoffnung auf, sie könnten nach Süden Richtung Budapest fahren, doch der Zug rollt weiter nach Vác. Bei Esztergom streiften sie die Grenze und bewegten sich eine Weile entlang der eiserstickten Donau, dann ging es durch Komárom, Győr und Kapuvár zur westlichen Grenze. Auf dem ganzen Weg kümmerte sich Tibor um Andras und József, um ihre fragile Genesung. Wenn Andras sich im Güterwagen übergab, machte Tibor ihn sauber, und wenn József den Kübel hinten im Waggon benutzten musste, ging Tibor mit ihm dorthin und half ihm. Er pflegte auch die anderen ehemaligen Patienten, von denen viele zu krank waren, um ihr Glück zu begreifen. Doch Tibor konnte nur wenig tun. Es gab nichts zu essen, kein Wasser, kein sauberes Verbandsmaterial, keine Medikamente. Nachts lag Tibor neben Andras und wärmte ihn, flüsterte ihm Geschichten ins Ohr, als wolle er sie beide bei Verstand halten. Ich erzähle dir eine Geschichte , sagte Tibor, als sei Andras der Sohn, den Tibor zurückgelassen hatte. Es war einmal ein Mann, der mit den Tieren sprechen konnte. Und der Mann sagte … Und die Tiere sagten … Ein unheimlich heftiger Juckreiz breitete sich über jeden Zentimeter von Andras’ Körper aus, selbst in der Wunde. Läusebisse. Einige Tage später griffen die ersten Schlingen des Fiebers nach ihm.
Als der Zug hielt, mussten sie am Ende des Landes angekommen sein. Wieder wurden sie in zwei Gruppen aufgeteilt: jene, die die Grenze überqueren konnten, und die, die es nicht konnten. Die mit Typhus oder Ruhr durften nicht hinüber. Sie kämen in ein Quarantänelager an der Grenze.
»Hör mir zu, Andras«, hatte Tibor kurz vor der Selektion gesagt. »Ich werde so tun, als ob ich krank bin. Ich lasse mich nicht über die Grenze schicken. Ich werde hier bei dir im Quarantänelager bleiben. Verstehst du mich?«
»Nein, Tibor. Wenn du bleibst, steckst du dich mit Sicherheit an.« Andras dachte an Mátyás, an dessen Krankheit in Kindertagen, an seine verzweifelte Nacht im Obstgarten.
»Und wenn ich mitgehe?«
»Du hast Fachwissen. Die brauchen dich. Sie lassen dich am Leben.«
»Denen ist mein Fachwissen egal. Ich bleibe hier bei dir, bei József und den anderen.«
»Nein, Tibor.«
»Doch.«
Aus den Güterwagen wurden die Schlafbaracken des Quarantänelagers. Man ließ sie am Bahnhof auf den Rangiergleisen stehen, ungezählte Waggonreihen, alle mit einer Fracht aus toten und sterbenden Männern. Tag für Tag wurden die Leichen aus den Wagen geholt und auf dem gefrorenen Boden aufgereiht; zu dieser Jahreszeit war es nicht möglich, sie zu begraben. Andras lag mit steigendem Fieber auf dem Boden des Güterwagens, nur Zentimeter über seinen toten Kameraden. Seit Monaten hatte er nichts von Klara gehört und keine Möglichkeit gehabt, ihr Nachricht zu geben. Ihr zweites Kind musste inzwischen geboren sein oder auch nicht. Tamás wäre fast zwei Jahre alt. Sie mochten deportiert worden sein, vielleicht auch nicht. Andras kam zu Bewusstsein und trieb wieder davon, wusste und wusste nicht, dachte und konnte nicht denken, während sein Bruder aus dem Quarantänelager schlüpfte und nach Sopron eilte, um Lebensmittel, Medikamente, Nachrichten zu besorgen. Jeden Tag kehrte Tibor mit dem wenigen zurück, was er hatte auftreiben können; er freundete sich mit einem Apotheker an, der ihn mit kleinen Mengen Antibiotika, Aspirin und Morphium versorgte und dessen Rundfunkgerät die BBC -Nachrichten empfing. Seit Anfang November war Budapest in erhöhter Gefahr.
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