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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Novak erhalten.
    Ein Kellner mit einem Fez setzte sie nebeneinander an einen Ecktisch. Es gab Fladenbrot und Honigwein, gegrillten Fisch, einen Gemüseeintopf im Tontopf. Beim Essen sprachen sie über die Aufführung und über Elisabet, die mit Marthe nach Chamonix abgereist war; sie unterhielten sich über Andras’ Arbeit und seine Prüfungen, die er mit hervorragenden Noten bestanden hatte. Doch die ganze Zeit war er sich ihrer Wärme und ihrer Bewegungen neben sich bewusst, ihr Arm streifte seinen. Wenn sie trank, beobachtete er, wie ihre Lippen den Rand des Glases berührten. Er konnte nicht aufhören, die Rundung ihrer Brüste unter ihrem engen Kleid zu betrachten.
    Nach dem Essen tranken sie starken Kaffee und aßen winzige rosa Makronen. Noch immer hatte keiner von beiden erwähnt, was am Vorabend geschehen war – weder das Gespräch über Klaras Familie noch was danach zwischen ihnen gewesen war. Ein- oder zweimal meinte Andras, einen Schatten über ihr Gesicht huschen zu sehen; er wartete darauf, dass sie ihn tadelte, dass sie sagte, er hätte ihr niemals erzählen dürfen, dass er ihre Mutter und Schwägerin getroffen habe, oder dass sie sich entschuldigte, sie hätte ihm keinen falschen Eindruck vermitteln wollen. Als nichts geschah, fragte er sich, ob sie so tun wollte, als wäre nichts passiert. Am Ende bezahlte er die Rechnung, trotz ihrer Proteste; er half ihr in den Mantel, und sie gingen zur Rue de Sévigné. Andras trug den schweren Korb voller Blumen und dachte an seinen lächerlichen Strauß, den er zum ersten Sonntagsessen mitgebracht hatte. Wie wenig er von alldem geahnt hatte, was ihm widerfahren würde, wie unvorbereitet er auf alles gewesen war, das er seitdem erlebt hatte – der Schock der Anziehungskraft, die Qual ihrer Nähe an Sonntagnachmittagen, die schuldbeladene Freude an der zunehmenden Vertrautheit und dann jener unvorstellbare Augenblick am Vorabend, als Klara ihre Hände um seine geschlossen, ihre Arme um ihn gelegt, ihren Kopf an seine Brust gelehnt hatte. Wie würde es jetzt weitergehen? Der Abend war fast vorbei. In Kürze hätten sie Klaras Haus erreicht. Als sie um die Ecke in die Straße bogen, fiel leichter Schnee.
    Vor Klaras Tür verdunkelten sich ihre Augen wieder. Sie lehnte sich gegen die Tür und warf seufzend einen Blick auf die Rosen. »Komisch«, sagte sie. »Seit Jahren machen wir im Dezember die Winteraufführung, und danach habe ich immer das Gefühl, als ob es nichts mehr gibt, auf das ich mich freuen könnte. Als ob alles vorbei wäre.« Sie lächelte. »Dramatisch, nicht?«
    Andras stieß langsam den Atem aus. »Es tut mir leid, falls … gestern Abend«, setzte er an.
    Sie unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln und sagte, es gebe nichts, wofür er sich entschuldigen müsse.
    »Ich hätte dich nicht nach deiner Familie fragen sollen«, sagte er. »Wenn du über sie hättest sprechen wollen, hättest du es getan.«
    »Wahrscheinlich nicht«, erwiderte sie. »Es ist mir so zur Gewohnheit geworden, alles geheim zu halten.« Erneut schüttelte sie den Kopf, und er wurde von einer Erinnerung an seine frühe Kindheit heimgesucht – an eine Nacht, in der er sich im Obstgarten versteckt hatte, während sein Bruder Mátyás im Bett lag, schwerkrank vor Fieber. Ein Arzt war gerufen worden, Wadenwickel gemacht, Medizin verabreicht, alles vergebens; das Fieber stieg immer weiter, und alle schienen damit zu rechnen, dass Mátyás sterben würde. Und währenddessen versteckte sich Andras mit einem furchtbaren Geheimnis in den Zweigen eines Apfelbaums: Er selbst hatte seinen Bruder angesteckt, als er mit ihm gespielt hatte, obwohl die Mutter ihm eingeschärft hatte, er solle sich um jeden Preis von ihm fernhalten. Wenn Mátyás starb, wäre das seine Schuld. In seinem ganzen Leben war Andras nicht so einsam gewesen. Jetzt berührte er Klaras Schulter und fühlte sie erschaudern.
    »Dir ist kalt«, sagte er.
    Sie schüttelte den Kopf. Dann holte sie den Schlüssel aus ihrer kleinen Handtasche und wollte die Tür öffnen. Doch ihre Hände zitterten, und sie drehte sich zu Andras um und hob ihm ihr Gesicht entgegen. Er beugte sich vor und streifte ihren Mundwinkel mit seinen Lippen.
    »Komm herein«, sagte sie. »Nur einen Moment.«
    Das Blut dröhnte ihm in den Schläfen, er trat hinter ihr ein. Er legte eine Hand um ihre Taille und zog sie näher. Sie sah zu ihm auf, die Augen feucht, er drückte sie an sich und küsste sie. Mit der anderen Hand schloss er die Tür. Er

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