Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
vorbei war, dass er in seinem ganzen Leben nichts anderes mehr tun wollte. Dann wusch er sie, wie sie es zuvor mit ihm getan hatte, jeden Zentimeter von ihr, und dann schwankten sie ins Bett.
Nichts in seinem Leben hatte ihn darauf vorbereitet, dass man mehrere Tage so verbringen konnte, wie sie die nächsten zehn Tage verbrachten. Später, in den dunkelsten Phasen der folgenden Jahre, sollte er immer wieder in Gedanken zu jener Zeit zurückkehren und sich vor Augen führen, dass er, auch wenn er stürbe und der Tod ihn in ein formloses Schweigen führte, trotz allem diese Tage mit Klara Morgenstern erlebt hatte.
Das Theater blieb über die Feiertage dunkel; Elisabet würde bis zum zweiten Januar in Chamonix sein. Das Ballettstudio war geschlossen; Unterricht fand erst wieder im neuen Jahr statt; Andras’ Freunde waren für die Feiertage heimgefahren. Frau Apfel war im Ferienhaus ihrer Schwiegertochter in Aix-en-Provence. Selbst die Plakate, die für Versammlungen antijüdischer Organisationen warben, waren verschwunden. Zu jeder Tageszeit waren die Straßen voller Menschen, unterwegs zum Einkaufen oder zu einer Feier. Klara selbst war zu einem halben Dutzend Festen eingeladen, sagte jedoch alle Verabredungen ab. Andras holte aus seiner kalten Dachkammer einige Kleidungsstücke und seine Skizzenbücher, schloss die Tür hinter sich und verschwand in die Rue de Sévigné.
Sie gingen auf Expedition, um Proviant zu besorgen: Kartoffeln für Reibekuchen, kaltes Brathuhn, Brot, Käse, Wein, eine Rosinentarte. In einem Trödelgeschäft auf der Rue Montmartre kauften sie Schallplatten für einen Franc das Stück, komische Operetten, altmodischen Dixielandjazz und Ballettmusik. Mit vollen Armen und leeren Taschen kehrten sie in Klaras Wohnung zurück und schlugen ihr Quartier auf. Am Abend begann Chanukka. Sie machten sich Kartoffelpuffer, erfüllten die Küche mit dem schweren Geruch heißen Öls, entzündeten die Kerzen. Sie liebten sich in der Küche und im Schlafzimmer und einmal auch, ungeschickt, auf der Treppe. Am nächsten Tag gingen sie auf dem anderen See eislaufen, dem im Bois de Boulogne, wo sie voraussichtlich niemanden treffen würden, der sie kannte. Die Schlittschuhläufer im Park waren bunte Farbkleckse im Grau des Nachmittags; es gab einen markierten Bereich in der Mitte des Eises, wo die geschickteren unter ihnen Pirouetten vollführten. Andras und Klara liefen, bis ihre Lippen blau vor Kälte waren. Jeden Abend badeten sie zusammen; jeden Morgen liebten sie sich nach dem Aufwachen. Andras erhielt eine beeindruckende Ausbildung, auf welch vielfältige Weise ein Mensch Lust empfinden konnte. Wenn er nachts erwachte und an Klara dachte, staunte er, dass er sich einfach umdrehen und sie berühren konnte. Er überraschte sie mit seiner Kochkunst, von seiner Mutter abgeschaut. Er konnte palacsinta machen, dünne Eierkuchen mit Schokoladen-, Marmeladen- oder Apfelfüllung; er konnte paprikás burgonya und Spätzle oder Rotkohl mit Kümmel kochen. Am Nachmittag schliefen sie herrlich lang. Sie liebten sich mitten am Tag auf Klaras weißem Bett, während draußen eiskalter Regen fiel. Sie liebten sich spätabends im Tanzstudio, auf Teppichen, die sie von oben heruntergeholt hatten. Einmal liebten sie sich auf dem Heimweg von einem Café an der Mauer einer schmalen Gasse.
Silvester feierten sie an der Bastille mit Tausenden jubelnder Pariser. Danach tranken sie eine Flasche Champagner im Wohnzimmer und schmausten Paté mit Brot, Käse und Cornichons. Keiner von beiden wollte schlafen, wohl wissend, dass der nächste Tag der letzte in dieser Reihe unglaublicher Tage sein würde. Als es dämmerte, gingen sie nicht zu Bett, sondern zogen Mantel und Hut an und spazierten am Fluss entlang. Die Sonne warf ihr goldenes Licht auf die Strebepfeiler von Notre-Dame; die Straßen waren voller Taxen, die schläfrige Nachtschwärmer heimbrachten. Andras und Klara setzten sich auf eine Bank im erfrorenen Garten an der östlichen Spitze der Île St.-Louis und küssten die frierenden Hände des anderen, und Andras sagte ein Gedicht von Marot auf, das Professor Vago ihm beigebracht hatte:
D’Anne qui luy jecta de la Neige
Anne (par jeu) me jecta de la Neige
Que je cuidoys froide certainement;
Mais estoit feu, l’experience en ay-je;
Car embrasé je fuz soubdainement.
Puis que le feu loge secretement
Dedans la Neige, où trouveray je place
Pour n’ardre point? Anne, ta seule grace
Estaindre peult le feu que je sens bien,
non
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