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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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»flach war«, damit das Wasser »ablaufen«könne. Dann legte er auf, und Andras konnte Vago endlich Tibor vorstellen, in ebenjenem Zimmer, wo sein älterer Bruder so oft Thema ihrer morgendlichen Unterhaltungen gewesen war, dass es nun fast so schien, als wäre er dadurch heraufbeschworen worden.
    »Nach Modena«, sagte Vago. »Ich beneide Sie. Sie werden Italien lieben. Sie werden nie mehr nach Budapest zurückwollen.«
    »Ich bin Ihnen unendlich dankbar für die Hilfe«, sagte Tibor. »Anders hätte es nie geklappt.«
    Vago machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich musste irgendetwas tun, um Ihren Bruder zu beschwichtigen. Er ließ mir einfach keine Ruhe.«
    »Wenn ich Ihnen diesen Gefallen jemals vergelten kann …«, sagte Tibor.
    »Sie werden Arzt«, sagte Vago. »Wenn ich Glück habe, werde ich Ihre Dienste nicht benötigen.« Dann teilte er ihnen die Nachrichten aus dem Krankenhaus mit: Polaners Zustand sei stabil; die Ärzte hätten beschlossen, ihn vorerst nicht zu operieren. Von Lemarque gäbe es noch immer keine Spur. Rosen hätte am Vortag die Tür seiner Pension eingetreten, aber Lemarque dort nicht vorgefunden.
    Tibor nahm mit Andras am Vormittagsunterricht teil. Er hörte zu, wie Andras seine Lösung der Statikaufgabe vortrug, in der es um den Stützpfeiler der Kathedrale ging, und ließ sich anschließend seine Zeichnungen im Atelier zeigen. Er wurde Ben Yakov und Rosen vorgestellt, die schnell die wenigen Worte Ungarisch erschöpft hatten, die sie von Andras gelernt hatten; Tibor flachste mit ihnen in seinem mageren, aber unerschrockenen Französisch. Mittags, beim Essen in der Cafeteria, erzählte Rosen von seinem Ausflug in Lemarques Pension. Er machte einen erschöpften Eindruck; sein Gesicht hatte die Zornesröte verloren, seine rostbraunen Sommersprossen schienen über der blassen Haut zu schweben. »So ein Rattenloch«, sagte er. »Hundert kleine dunkle Zimmer mit miefenden Männern. Das stank schlimmer als im Gefängnis. Das Schwein hätte einem fast leidtun können, dass er in so einer Absteige haust.« Rosen hielt inne und gähnte breit. Er hatte die ganze Nacht im Krankenhaus gewacht.
    »Und keine Spur von ihm?«, fragte Ben Yakov. »Nichts?«
    Rosen schüttelte den Kopf. »Ich hab das Haus vom Keller bis zum Dachboden durchsucht. Keiner hat ihn gesehen, wenigstens behaupten das alle.«
    »Und wenn du ihn gefunden hättest?«, fragte Tibor.
    »Was ich getan hätte, meinst du? Ich hätte ihn wohl mit bloßen Händen erwürgt. Aber das wäre dumm von mir gewesen. Wir müssen wissen, wer seine Komplizen waren.«
    Die Cafeteria begann sich langsam zu leeren. Rund um das Atrium wurden Türen geöffnet und zugeschlagen, Studenten schlenderten in ihre Unterrichtsräume. Tibor sah ihnen nach, die Augen ernst hinter seiner Brille mit dem Silberrahmen.
    »Was denkst du?«, fragte ihn Andras auf Ungarisch.
    »Glücks-Béla«, sagte Tibor. » Ember embernek farkasa .«
    »Sprecht Französisch, ihr Ungarn!«, sagte Rosen. »Wovon redet ihr?«
    »Ein Spruch, den unser Vater immer sagte«, erwiderte Andras und wiederholte den Satz.
    »Und was heißt das in der Sprache der restlichen Welt?«
    »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.«
    An jenem Abend wollten sie zu einer Feier bei József Hász am Boulevard Saint-Jacques gehen. Es würde der erste Abend sein, den Andras seit Beginn seiner Affäre mit Klara bei József verbrachte. Die Vorstellung machte ihn nervös, aber József hatte ihn eine Woche zuvor persönlich eingeladen; einige seiner Bilder würden beim Rundgang in der Beaux-Arts hängen, Andras solle sich die Schau auf keinen Fall ansehen, weil sie schrecklich langweilig sei, aber nach der Eröffnung gäbe es Getränke und Essen bei József. Andras hatte mit der Begründung abgelehnt, Tibor wäre in der Stadt und er könne József nicht noch einen Gast zumuten, doch diese Ausrede hatte József natürlich nicht gelten lassen: Wenn Tibor zum ersten Mal in Paris sei, dürfe er eine Feier bei József Hász auf keinen Fall verpassen.
    Als sie ankamen, waren die Gäste bereits betrunken. Ein Dichter-Trio stand auf dem Sofa und deklamierte Verse in dreitöniger Kakofonie, während ein Mädchen in einem grünen Gymnastikanzug auf dem Orientteppich Verrenkungen vollführte. József selbst herrschte über den Kartentisch und gewann beim Poker, während die anderen Spieler verdrießlich auf ihre schwindenden Geldhäuflein starrten.
    »Die Ungarn sind da!«, rief József, als er die Brüder erblickte.

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