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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Eisen. Die Schmelzöfen waren zu Backöfen umgebaut worden; es gab grob gezimmerte Holztische, eine Speisekarte mit billigen Gerichten und kräftigen Apfelcidre, der in Tonbechern serviert wurde. Sie setzten sich an einen Tisch und bestellten ihre Getränke.
    »Das war also deine Klara«, sagte Tibor und schüttelte den Kopf. »Sie kann unmöglich die Mutter dieses Mädchens sein, das wir gestern Abend auf der Party gesehen haben.«
    »Leider doch.«
    »So eine Katastrophe! Wie ist sie bloß an dieses Kind gekommen? Sie kann damals selbst kaum mehr als ein Kind gewesen sein.«
    »Sie war fünfzehn«, sagte Andras. »Ich weiß nichts über den Vater, nur dass er schon lange tot ist. Sie will nicht darüber sprechen.«
    Klara kam, als die Brüder gerade die zweite Runde bestellten. Sie hängte ihren roten Hut und den Mantel an die Garderobe und setzte sich zu ihnen, schob ein paar feuchte Haarsträhnen hinter das Ohr. Andras spürte die Hitze ihrer Beine neben seinen; unter dem Tisch berührte er den Stoff ihres Kleides. Sie hob den Blick zu ihm und fragte, ob etwas nicht stimme. Das Wichtigste konnte er ihr natürlich nicht sagen: dass Tibor ihre Beziehung nicht guthieß, zumindest theoretisch. Deshalb erzählte er ihr, was mit Polaner an der École Spéciale passiert war.
    »Was für ein Albtraum«, sagte sie, als er geendet hatte, und legte den Kopf in die Hände. »Dieser arme Junge! Was ist mit seinen Eltern? Hat ihnen jemand geschrieben?«
    »Er hat uns gebeten, es nicht zu tun. Er schämt sich, weißt du.«
    »Natürlich. Mein Gott.«
    Schweigend saßen die drei da, blickten in ihre Becher. Als Andras Tibor einen Blick zuwarf, hatte er das Gefühl, das Gesicht seines Bruders sei milder geworden; als wäre es angesichts der Geschehnisse um Polaner absurd, ja, ein Luxus, sich über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Liebe eine Meinung zu bilden. Tibor fragte Klara nach der Unterrichtsstunde, die sie gerade erteilt hatte, und sie erkundigte sich, was er von Paris halte und ob er Zeit habe, sich vor dem Studienbeginn noch Italien anzusehen.
    »Ich werde nicht viel Zeit zum Reisen haben«, sagte Tibor. »Der Unterricht beginnt nächste Woche.«
    »Und was kommt als Erstes dran?«
    »Anatomie.«
    »Das werden Sie bestimmt interessant finden«, sagte sie. »Ich fand es jedenfalls spannend.«
    »Sie haben Anatomie studiert?«
    »Ein wenig«, erwiderte Klara. »In Budapest war es Teil meiner Ballettausbildung. Ich hatte einen Lehrer, der es für richtig hielt, uns in der Physik und Mechanik des menschlichen Körpers zu unterrichten. Wir mussten Bücher mit anatomischen Zeichnungen studieren, die die meisten Mädchen anekelten – auch manche Jungen, obwohl sie es überspielten. Einmal hat uns dieser Lehrer mit in die Medizinische Fakultät der Universität genommen, wo die Studenten Leichen sezierten. Von einem der Professoren ließ er uns alle Muskeln, Sehnen und Knochen von Beinen und Armen zeigen. Dann den Rücken, die Wirbelsäule. Zwei Mädchen wurden ohnmächtig, das weiß ich noch. Aber ich fand es aufregend.«
    Tibor betrachtete Klara mit widerstrebender Bewunderung. »Und glauben Sie, es hat Ihren Tanz verbessert?«
    »Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass es mir beim Unterrichten nützt. Es hilft mir beim Erklären.« Einen Augenblick lang wurde sie nachdenklich, betastete den bestickten Saum ihrer Serviette. »Wissen Sie, ich habe noch einige Anatomiebücher zu Hause. Mehr als ich gebrauche oder benutze. Ich würde Ihnen gerne eines davon schenken, wenn Sie noch Platz in Ihrem Gepäck haben.«
    »Das kann ich nicht annehmen«, sagte Tibor, doch eine altbekannte Begehrlichkeit schlich sich in seinen Blick. Beide Brüder hatten die Leidenschaft ihres Vaters für alte Bücher geerbt; in Budapest hatten Tibor und Andras Stunden in Antiquariaten verbracht, wo Tibor ein altes Anatomiebuch nach dem nächsten aus dem Regal zog und Andras in detailliertem Farbdruck die schüchterne Krümmung der Bauchspeicheldrüse, die traubenförmigen Bläschen einer Lunge zeigte. Er war ganz verrückt nach diesen wunderschönen Wälzern, die er sich niemals leisten konnte, nicht einmal zu den Antiquariatspreisen.
    »Ich bestehe darauf«, sagte Klara. »Sie kommen nach dem Essen vorbei und suchen sich eines aus.«
    Und so gingen sie nach der Bouillabaisse und einer weiteren Runde Cidre in die Rue de Sévigné und stiegen die Stufen zu Klaras Wohnung empor. Hier befand sich der Salon, wo Andras sie zum ersten Mal gesehen hatte;

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