Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
ein Clubhaus bauen. Der vierjährige Mátyás war sein Gehilfe. Er begleitete Andras zu den Aufträgen und reichte ihm feierlich die Nägel an, mit denen der große Bruder die Hütten zusammennagelte. Als Gegenleistung für seine Bautätigkeit nahm Andras alles an, was die Jungen zu bieten hatten: das Foto eines Vaters in Militäruniform, eine Flotte winziger Kriegsflugzeuge aus Blech, einen Katzenschädel, ein Boot aus Balsaholz, eine weiße Maus in einem Käfig. In jenem Sommer war er der reichste Junge im Dorf gewesen.
»Weißt du noch, meine Maus?«, fragte Andras. »Wie du sie immer genannt hast?«
»Eliahu ha-Navi .«
»Anya wollte das nicht hören. Sie hielt es für Gotteslästerung.« Andras grinste und dehnte die Finger auf dem kalten Bordstein. Die Schatten wurden länger, die Kälte suchte sich ihren Weg durch die Lagen seiner Kleidung. Gerade wollte er vorschlagen, weiterzugehen, als Tibor verträumt zu sprechen begann, den Blick hinauf zu dem Dachgarten mit seinen grünen Sträuchern gerichtet.
»Das war das Jahr, in dem ich zum ersten Mal verliebt war«, sagte er. »Das habe ich dir nie erzählt. Du warst zu klein, um das zu verstehen, und als du alt genug warst, war ich in eine andere verliebt, in Zsuzsanna, das Mädchen, mit dem ich am Gimnázium immer tanzen ging. Doch vor ihr gab es ein Mädchen, das hieß Rózsa Geller. Rózsika. Ich war dreizehn, sie war sechzehn. Sie war die älteste Tochter der Familie, bei der ich in Debrecen wohnte. Die später wegzog, kurz bevor du in die Schule kamst.«
Andras bemerkte eine ungewohnte Düsterkeit in Tibors Stimme, einen fast verbitterten Unterton. »Sechzehn«, sagte er und pfiff leise vor sich hin. »Eine ältere Frau.«
»Ich sah ihr immer beim Baden zu. Sie badete gerne in der Küche in einer Zinkwanne, und mein Bett war hinter einem Vorhang. Dieser Vorhang war voller Löcher. Sie muss gewusst haben, dass ich ihr zuschaute.«
»Und du konntest alles sehen.«
»Alles. Sie stand dort, übergoss sich mit Wasser und summte die Marseillaise.«
»Warum gerade die Marseillaise?«
»Sie war in einen französischen Filmstar verliebt. Er spielte in vielen Kriegsfilmen mit.«
»Pierre Fresnay.«
»Genau, so hieß der Blödmann. Woher weißt du das?«
»Dieser Freund von mir, Ben Yakov, hat Ähnlichkeit mit ihm.«
»Hm. Ich bin froh, dass ich das nicht wusste, als ich ihn kennenlernte.«
»Und wie ging es weiter?«
»Eines Tages ertappte mich ihr Vater. Er prügelte mich windelweich. Brach mir den Arm.«
»Du hast dir den Arm doch beim Fußballspielen gebrochen!«
»Das war die offizielle Version. Rózsas Vater sagte, er würde mich als Sittenstrolch an die Polizei ausliefern, wenn ich die Wahrheit sagte. Sie warfen mich aus dem Haus. Ich habe sie niemals wiedergesehen.«
»Oh, Gott, Tibor. Das ist ja schrecklich! Du warst erst dreizehn.«
»Und sie sechzehn. Sie wusste, dass sie es nicht hätte zulassen dürfen. Sie muss gewusst haben, dass ich irgendwann erwischt würde. Vielleicht wollte sie das ja.« Tibor stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. »So viel zu meinen Erfahrungen mit älteren Frauen.«
Hinter einem Fenster des Hauses bewegte sich etwas, eine weibliche Silhouette huschte durch das beleuchtete Viereck. Andras erhob sich neben seinem Bruder. Er stellte sich vor, dass die Bildhauerin am Fenster stand und die beiden dort herumlungern sah, als warteten sie darauf, einen Blick auf die Frau zu erhaschen.
»Ich bin keine dreizehn mehr«, sagte Andras. »Und Klara ist nicht sechzehn.«
»Das stimmt«, sagte Tibor. »Ihr seid erwachsen. Aber das bedeutet auch, dass die Folgen schwerwiegender sind, wenn ihr euch mit Leib und Seele in diese Beziehung stürzt.«
»Dafür ist es zu spät«, sagte Andras. »Ich bin schon kopfüber drin. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich bin ihrem Erbarmen ausgeliefert.«
»Dann hoffe ich, dass sie sich deiner erbarmen wird«, sagte Tibor. Und er benutzte das jiddische Wort rachmones , dasselbe Wort, das Andras vor Monaten im Jardin du Luxembourg geholfen hatte, wieder zu sich selbst zu finden.
Am nächsten Morgen trugen sie Tibors Taschen zum Gare de Lyon, so wie sie Andras’ Gepäck zum Nyugati-Bahnhof geschleppt hatten, als er nach Paris aufbrach. Jetzt war es Tibor, der ein unbekanntes Leben in einem fremden Land begann, Tibor, der fortzog, um zu studieren, zu arbeiten und sich durch die dunklen Gewässer einer fremden Sprache zu navigieren. Der Wind brüllte durch die langen
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