Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Schläuche der Boulevards und versuchte, ihnen die Koffer aus den Händen zu reißen; das warme Wetter vom Vortag war vorbei, es schien, als hätten sie es nur geträumt. Paris war so grau, wie es am Tag von Andras’ Ankunft gewesen war. Am liebsten hätte er eine Ausrede gehabt, um Tibor noch einen Tag, eine Woche länger bei sich zu behalten. Sein Bruder hatte natürlich recht: Es war dumm, was Andras getan hatte; es war dumm, sich mit Klara Morgenstern einzulassen. Er hatte sich auf gefährliches Terrain vorgewagt, tastete sich auf einem immer schmaler werdenden Pfad voran, der zu einer uneinsehbaren Kehre in der Felswand führte. Andras hatte weder die richtigen Schuhe noch den Proviant dafür, weder die passende Kleidung noch den Weitblick, die mentale Stärke, die Erfahrung. Er hatte nichts außer einer leichtsinnigen Hoffnung – nicht unähnlich jener, die die Entdecker des 15. Jahrhunderts über die Ränder der Landkarte hinausgeführt hatte. Nachdem Tibor ihm klargemacht hatte, wie schlecht gerüstet er war, wie konnte sein Bruder ihn da allein lassen? Wie konnte er da einfach in einen Zug steigen und nach Italien verschwinden? Es war immer Tibors Aufgabe gewesen, Andras den Weg zu weisen, wenn der Pfad im Dunkeln lag. Doch jetzt hatten sie den Gare de Lyon erreicht; vor ihnen stand der Zug schwarz und ungerührt auf den Gleisen.
»Also gut«, sagte Tibor. »Weg bin ich.«
Bleib hier , wollte Andras sagen. »Viel Glück«, sagte er.
»Schreib mir. Und mach mir keinen Ärger. Hörst du?«
»Keine Sorge, das werde ich nicht.«
»Gut. Wir sehen uns bald wieder.«
Lügner , wollte Andras sagen.
Tibor legte eine Hand auf Andras’ Arm. Es sah aus, als wollte er noch etwas sagen, ein paar letzte Worte auf Ungarisch, bevor er in einen Zug voller italienisch und französisch sprechender Menschen stieg, doch dann schwieg er mit einem Blick auf den gewaltigen Schlund des Bahnhofs und das Gleisgewirr dahinter. Er stieg in den Waggon, und Andras reichte ihm seine Ledertasche. Die silberne Brille rutschte Tibor den Nasenrücken hinunter; mit dem Daumen schob er sie wieder hoch.
»Schreib mir, wenn du da bist«, sagte Andras.
Tibor tippte an seine Mütze, öffnete die Tür zum Dritte-Klasse-Abteil und war fort.
Als der Zug den Bahnhof verlassen hatte, ging Andras durch die SORTIE -Türen in eine Stadt, in der sein Bruder nicht mehr war. Er lief mit gefühllosen Füßen in seinen neuen schwarzen Oxford-Schuhen, die sein Bruder ihm aus Ungarn mitgebracht hatte. Es war ihm egal, wer ihm auf der Straße entgegenkam und wohin er ging. Selbst wenn er vom Bordstein nicht hinab in den Rinnstein, sondern hoch in die Luft gestiegen wäre, wenn er über die Autos und zwischen den Gebäuden emporgeklettert wäre, bis er auf die Dächer mit ihren roten Lehmschornsteinen und ihren unregelmäßig geschwungenen Rücken hinabgesehen hätte, und wenn er dann weiter hinaufgestiegen wäre, bis er durch den Sumpf tief hängender Wolken im Winterhimmel gewatet wäre, hätte er dennoch weder Schreck noch Freude empfunden, weder Verwunderung noch Überraschung, sondern nur diese bleierne Feuchtigkeit in den Gliedern. Seine Füße führten ihn immer weiter fort von seinem Bruder, westwärts durch die Stadt zum Boulevard Raspail, bis zur École Spéciale und durch die blauen Türen in den Hof.
Der Hof war erfüllt von Studenten, die alle sonderbar still waren. Gesenkten Kopfes bildeten sie kleine Grüppchen von drei oder vier Personen. Ein schweres Schweigen lag in der Luft. Es besaß eine spürbare, dunkle Präsenz, wie ein im Flug erstarrter Krähenschwarm. Auf einer splittrigen Bank in einer Ecke saß Perret und barg den Kopf in den Händen.
Und bald schon kannte Andras den Grund für das alles. Durch die langsame Provinzpost hatte die Nachricht von Polaners schweren Verletzungen Lemarque auf dem Bauernhof seiner Eltern in Bayeux erreicht, wohin er nach dem Übergriff geflohen war. In dem Brief teilten ihm seinen Komplizen mit, dass Polaner im Krankenhaus mit dem Tode rang, an inneren Blutungen litt: Die Nachricht sollte Lemarque ermuntern und ihm zeigen, dass nicht alles umsonst gewesen war, dass die Prügel länger Wirkung gezeigt hatten. Als Lemarque den Brief erhielt, verfasste er seinerseits zwei. Den einen adressierte er an die Direktoren der Schule. Darin übernahm er die Verantwortung für alles, was geschehen war, und nannte die Namen von drei weiteren Studenten aus dem dritten und vierten Jahr, die beteiligt gewesen
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