Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
unterrichtete. Ohne Tibor zu erklären, wohin sie gingen, steuerte er die Rue François Miron hinunter in Richtung der Rue de Sévigné. Er folgte dem Weg, den er seit Wochen nicht mehr gegangen war. Und dort an der Ecke sickerte Licht auf die Straße, dort war das Ballettstudio mit den halbhohen Vorhängen, das Schild mit der Aufschrift MME . MORGENSTERN , MAÎTRESSE . Der schwache Klang von Grammofonmusik tönte durch die Scheiben; der erhabene, getragene Schumann, den Klara für die Révérence zum Trainingsende einsetzte. Sie unterrichtete eine Gruppe fortgeschrittener Mädchen, schlanke Zehnjährige, deren Schulterblätter wie kleine spitze Flügel unter der Baumwolle ihrer Gymnastikanzüge hervorstachen. Klara stand vorn und leitete die Kinder durch eine Folge fließender Knickse. Ihr Haar war im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammengefasst, sie trug ein schlichtes Tanzkleid aus pflaumenblauer Viskose, in der Taille mit einem schwarzen Band gebunden. Ihre Arme waren geschmeidig und stark, ihre Gesichtszüge gelassen. Sie brauchte niemanden; sie hatte sich ihr eigenes Leben aufgebaut, und hier war es: die Révérence zum Trainingsabschluss, ihre Tochter im oberen Stockwerk, Frau Apfel als Haushälterin, die warmen Zimmer ihrer Wohnung, vom eigenen Geld gekauft. Und doch schien sie etwas von ihm zu wollen, von Andras Lévi, dem zweiundzwanzigjährigen Studenten der École Spéciale: Vielleicht war es der Luxus der Verletzlichkeit oder das aufregende Prickeln der Unsicherheit. Andras sah ihr zu, und das Herz in seiner Brust hörte fast auf zu schlagen.
»Da ist sie«, sagte er. »Klara Morgenstern.«
»Gott«, sagte Tibor. »Sie ist wunderschön, so viel steht fest.«
»Mal sehen, ob sie mit uns essen gehen will.«
»Nein, Andras. Das mache ich nicht.«
»Warum nicht?«, fragte er. »Du bist hergekommen, um zu sehen, wie ich lebe, oder? So lebe ich. Wenn du sie nicht kennenlernst, wirst du es nicht erfahren.«
Tibor beobachtete, wie Klara die Arme hob; die Kinder streckten ebenfalls die Arme empor und neigten sich zu tiefen Knicksen.
»Sie ist sehr klein«, sagte Tibor. »Eine Waldnymphe.«
Andras versuchte, sie so zu sehen, wie Tibor sie wahrnahm – als sähe er sie zum ersten Mal. Die Art, wie sie ihren Körper bewegte, hatte etwas Furchtloses, etwas Mädchenhaftes, als ob ein Teil von ihr Kind geblieben wäre. Doch ihre Augen hatten den Blick einer Frau, die gesehen hatte, wie ein Leben in das nächste überging. Das war es, was sie wie eine Nymphe wirken ließ, dachte Andras: Sie verkörperte zugleich Zeitlosigkeit und das unabänderliche Verstreichen der Zeit. Die Musik kam zum Ende, und die Mädchen liefen zu ihren Taschen und Mänteln. Tibor und Andras sahen zu, wie sie nach und nach verschwanden. Dann gingen sie zu Klara, die fröstelnd in der Studiotür stand.
»Andras«, sagte sie und griff nach seiner Hand. Er war erleichtert, dass sie sich offenbar freute, ihn zu sehen; er hatte nicht gewusst, wie sie auf den unangekündigten Besuch reagieren würde. Er redete sich ein, es sei nicht ungewöhnlich, bei einem Spaziergang durch das Marais bei ihr vorbeizuschauen; es war etwas ganz Normales, das man als Bekannter tun konnte.
»Das ist ja eine Überraschung«, sagte sie. »Und wer ist dieser Herr?«
»Das ist Tibor«, sagte Andras. »Mein Bruder.«
Klara ergriff seine Hand. »Tibor Lévi!«, rief sie. »Endlich! Seit Monaten höre ich schon von Ihnen.« Sie sah sich über die Schulter um, schaute die Treppe hoch. »Aber was macht ihr beiden hier? Ihr seid doch nicht gekommen, um Ballettunterricht zu nehmen.«
»Geh mit uns essen!«, bat Andras.
Klara lachte, ein wenig nervös. »Dafür bin ich wohl nicht richtig angezogen.«
»Wir trinken schon mal etwas und warten auf dich.«
Sie legte die Hand auf den Mund und schaute sich wieder über die Schulter um. Aus der Wohnung hörte man schnelle Schritte und das Rascheln von Straßenkleidung. »Meine unergründliche Tochter geht heute Abend mit Freunden aus.«
»Dann komm mit!«, sagte Andras. »Wir leisten dir Gesellschaft.«
»In Ordnung«, sagte Klara. »Wo wollt ihr warten?«
Andras nannte ein Lokal, in dem es eine Bouillabaisse mit dicken braunen Brotscheiben gab. Sie mochten es beide sehr, waren während ihrer gemeinsamen Tage im Dezember dort essen gewesen.
»Ich bin in einer halben Stunde da«, sagte Klara und lief nach oben.
Das Restaurant war früher eine kleine Gießerei gewesen und roch noch immer schwach nach Schlacke und
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