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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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hier war die nestförmige Schale mit den Zuckereiern, das graue Samtsofa, das Grammofon, die Lampen mit den bernsteinfarbenen Schirmen – die vertraute Landschaft von Klaras Leben, die ihm im vergangenen Monat verwehrt worden war. Klara zog drei große, in Leder gebundene Anatomiebücher aus einem Regal. Sie legte sie auf den Schreibtisch und schlug den goldbedruckten Einband auf. Tibor blätterte zu den Illustrationen, auf denen die Mysterien des menschlichen Körpers in Farbdruck enthüllt wurden: die Knochen mit ihren gewobenen Muskelschilden, das Spinngewebe des Lymphsystems, die verwickelte Schlange der Eingeweide, der kleine befensterte Raum des Auges. Der schwerste und schönste aller Bände war der in Latein verfasste Foliant Corpus Humanum , der in der kühnen, eckigen Schrift ihres Ballettlehrers Viktor Romankow mit einer Widmung für Klara versehen war: Sine scientia ars nihil est. Budapest 1925 .
    Klara nahm Tibor den Wälzer aus den Händen und steckte ihn in seinen Lederschuber zurück. »Das hier möchte ich Ihnen schenken«, sagte sie und legte ihm das Buch in die Arme.
    Er errötete und schüttelte den Kopf. »Das kann ich auf gar keinen Fall annehmen.«
    »Ich möchte, dass Sie es bekommen«, sagte sie. »Für Ihr Studium.«
    »Ich muss doch reisen. Ich möchte es nicht beschädigen.« Er hielt es ihr wieder hin.
    »Nein«, sagte sie. »Nehmen Sie es. Sie werden sich freuen, es zu haben. Und ich werde mich freuen, es in Modena zu wissen. Es ist klein im Vergleich zu dem, was Sie auf sich nehmen mussten, um es dorthin zu schaffen.«
    Tibor schaute auf das Buch in seinen Armen. Er hob den Blick zu Andras, doch der wich ihm aus; er wusste, wenn er seinen Bruder ansah, ginge es letztlich um die Frage, ob Tibor das guthieß, was zwischen ihm und Klara war. Deshalb richtete Andras den Blick fest auf den Kaminschutz mit der Reiterszene im schattigen Wald und überließ die Entscheidung Tibors Begehren nach dem wunderschönen Folianten. Nach einem weiteren Moment des Zögerns versicherte Tibor mit rauer Stimme seine Dankbarkeit und ließ Klara das Buch in braunes Papier einschlagen.
    An Tibors letztem Tag in Paris fuhren Andras und er mit der donnernden Métro nach Boulogne-Billancourt. Es war ein für Januar erstaunlich milder Nachmittag, windstill und trocken. Sie gingen die langen stillen Hauptstraßen entlang, vorbei an Bäckereien, Lebensmittelläden und Herrenausstattern, hinaus in das Viertel, in dem Pingussons weißer Ozeandampfer die Morgenluft durchschnitt, als sei er auf dem Weg zum Meer. Andras erzählte die Geschichte von dem Pokerspiel, bei dem Perrets Pechsträhne in ein Stipendium verwandelt worden war; dann führte er seinen Bruder die Rue Denfert-Rochereau hinunter, wo Gebäude von Le Corbusier, Mallet-Stevens, Raymond Fischer und Pierre Patout in ihrer nüchternen, schmucklosen Strenge im dünnen Morgenlicht erstrahlten. In den Monaten seit seinem ersten Besuch hier war Andras immer wieder zu diesem kleinen Straßennetz zurückgekehrt, wo die von ihm am meisten bewunderten lebenden Architekten Schreine der Schlichtheit und Schönheit errichtet hatten. Eines Morgens vor nicht allzu langer Zeit war er auf die Villa Gordin gestoßen, ein kastenförmiges, entfernt japanisch anmutendes Haus, das Perret für eine Bildhauerin entworfen hatte. Es besaß eine verspiegelte Fensterfront, abgesetzt durch zwei Streifen von Ziegelsteinen, im Schachbrettmuster gemauert. Perret hätte alles bauen können, was er wollte, auf jedem freien Grundstück in Paris, und doch hatte er sich für dieses Projekt entschieden: ein Werk von spartanischer Schlichtheit, ein Gebäude mit menschlichen Dimensionen für eine Künstlerin auf einer kleinen Straße, ein Haus, wo man arbeiten und allein sein konnte. Die Villa Gordin war Andras’ Lieblingsgebäude in Boulogne-Billancourt geworden. Sie setzten sich auf den Bordstein gegenüber vom Haus, und er erzählte seinem Bruder von der in Lettland geborenen Bildhauerin, die dort wohnte, Dora Gordin, und von dem luftigen Atelier, das Perret für sie hinter dem Haus errichtet hatte.
    »Erinnerst du dich noch an die Hütten, die du in Konyár gebaut hast?«, fragte Tibor. »Deine Wohnungsvermittlung?«
    Die Wohnungsvermittlung. In dem Sommer, als Andras neun wurde, kurz bevor er auf die Schule nach Debrecen wechselte, war er für die Jungen aus der Nachbarschaft zum Bauunternehmer geworden. Er hatte das Monopol auf Sperrholz und konnte an einem halben Tag eine Festung oder

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