Die unsichtbare Handschrift
augenscheinlich erkannte, wie der Blitz die Richtung wechselte. Wie es aussah, hatte er sich seine Kräfte geschickt eingeteilt. Der Steinmetz und der Maurer setzten ihm nach, bekamen ihn jedoch nicht zu packen. Immer wieder wich er aus, bückte sich unter einer zugreifenden Hand weg und war im nächsten Augenblick schon wieder hinter einem Haufen von Steinen verschwunden.
»Er wird entkommen«, flüsterte Esther entsetzt.
»Nein, ich schnappe mir den Schurken!« Vitus, der ein wenig verschnauft hatte, war im Begriff, in die Tat umzusetzen, was er soeben angekündigt hatte, da hörten sie einen dumpfen Klang und einen Schrei aus dem Winkel, in dem Esther den vermeintlichen Boten zuletzt gesehen hatte.
»Ich habe ihn. Ich habe ihn wahrlich niedergestreckt!« Kaspar kam hinter den Steinen, die bereitlagen, um die Vorderseite des Doms weiter in den Himmel wachsen zu lassen, zum Vorschein. Seine roten Haare wurden vom Wind durcheinandergewirbelt und leuchteten wie ein lustiges Feuer.
»Gut gemacht, Kaspar«, sagte der Steinmetz, der die Stelle gerade erreicht hatte.
»Alle Achtung, diese behende Beweglichkeit hätte ich einem Schreiber gar nicht zugetraut«, pflichtete der Maurer, ein kräftiger Kerl mit riesigen Händen, ihm bei.
Auch Esther kam, Vitus an ihrer Seite, näher.
»Dich schickt der Himmel!« Sie umarmte ihren Bruder. »Woher wusstest du, dass wir Hilfe brauchen können?«
»Euer Gebrüll war kaum zu überhören. Da dachte ich mir, ich sehe mal nach dem Rechten.« Der Stolz kroch ihm aus jeder Pore.
»Ich hole ein Seil. Dann schnüren wir den Lump zusammen und schleppen ihn zum Häscher«, schlug der Steinmetz vor. Und an den am Boden Liegenden gewandt, fügte er hinzu: »Das wird dich lehren, anständige Frauen nicht zu belästigen.«
»Wir danken Euch, werter Herr«, ergriff Vitus das Wort. »Es war höchst ehrenhaft, dass Ihr ohne Umschweife helfen wolltet. Doch können wir Euch nun nicht länger Eure Zeit rauben. Ihr werdet gebraucht, um den prächtigsten Dom der gesamten Gegend zu bauen.« Er blickte zu dem Bauwerk, das in der Tat mit jedem Tag mehr beeindruckte. »Kaspar hat den Finsterling allein zur Strecke gebracht. Da werden wir ihn wohl auch zu zweit zu den Häschern schaffen können.«
Esther verfolgte das Gespräch der Männer. Erst wollten die beiden sich nicht lumpen lassen, dann gestanden sie ein, dass es Meister Gebhardt gar nicht zusagen würde, wenn sie ihre Arbeit im Stich ließen. Schließlich einigte man sich darauf, dass der Maurer ein Seil brachte. Den Rest wollten Vitus und Kaspar allein erledigen.
»Du wirst am Pranger stehen, bis du verfaulst«, schleuderte Kaspar dem Halunken entgegen, während Vitus ihm die Arme auf den Rücken band. »Die Leute werden dich bespucken und mit Unrat bewerfen.«
»Hör auf, Kaspar«, ermahnte Esther ihn gedämpft. Sie wusste selber nicht, warum, doch war es ihr nicht recht, wie ihr Bruder diesen Mann, von dem er nichts wusste, beschimpfte. Da war etwas in den Augen des Fremden, das ihr Mitleid weckte. Natürlich hatte sie keinesfalls vergessen, was er im Skriptorium zu ihnen gesagt, was er getan hatte. Nur konnte Kaspar davon eben nichts wissen. Und er wusste auch noch nicht, dass Reinhardt tot und das nicht die Schuld dieses Mannes war. Da war immer noch Felding, der wahre Unhold. Sie mussten sich gut überlegen, was zu tun war. Vielleicht, kam es ihr in den Sinn, konnten sie über ihren fremden Verfolger gar an Felding herankommen. Aber natürlich, das war die Idee. »Lass ihn in Frieden, Kaspar«, sagte sie bestimmt. »Und nun zu Euch. Ihr werdet uns augenblicklich verraten, wer Ihr wirklich seid und was Ihr in der Schreiberwerkstatt zu schaffen hattet.« Sowohl Vitus als auch der fremde Kerl schienen in höchstem Maße erstaunt über ihre plötzliche Entschlossenheit zu sein.
»Du hast recht, Esther, die Fragen, die wir Reinhardt stellen wollten, soll er uns beantworten. Aber nicht hier. Denkst du, wir können dem Müller so weit trauen, dass er uns auch mit diesem Schuft aufnimmt und nicht verrät?«
»Ja, ich bin guter Dinge, dass wir das können.«
»Also los!« Vitus schubste den Gefesselten vorwärts. Das Ende des Seils, das dessen Hände zusammenhielt, verschwand in seiner Faust.
»He, was ist mit mir?« Kaspar war wieder ganz der Alte. Mit hängenden Schultern stand er da und lutschte an seiner Oberlippe.
»Du hast gut gehandelt, aber jetzt gehst du am besten zurück zu deiner Arbeit. Gebhardt wird dich gewiss schon
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