Die unsichtbare Handschrift
lächelte, und in seiner Stimme schwang unverhohlene Bewunderung.
»Das war kein Bote, das war der Kerl, der mich verfolgt hat.«
»Bist du sicher? Dass er sich nur als Bote des Kaisers ausgibt, ist mir auch rasch in den Sinn gekommen. Wer er aber war, hätte ich nicht sagen können.«
»Hinter dir war er ja auch nicht her.«
»Bis jetzt«, entgegnete er und riss die Augen auf. »Da kommt er!«
»O Herr im Himmel, was sollen wir denn jetzt tun?« Der Anblick des hochgewachsenen dünnen Mannes mit dem wehenden schwarzen Umhang ließ sie schaudern. Immerhin war nicht zu übersehen, dass er sich nach dem Sturz, von dem Vitus gesprochen hatte, nicht mehr so geschmeidig bewegte wie zuvor. Auch war er nicht mehr so schnell auf den Beinen. Es würde ihm nicht mehr gelingen, sie beinahe unbemerkt wie ein Geist zu verfolgen.
»Wir nehmen das Boot«, verkündete Vitus und zog sie auch schon mit sich in Richtung des Ufers.
»Bist du von Sinnen?« Der Ostwind blies kräftig und drückte viel Wasser in die Trave. Das sonst so freundliche Flüsschen gebärdete sich an diesem Tag wie ein tosender Strom. Das Boot, auf das Vitus unbeirrt zuhielt, war diesen wilden Wassermassen nicht gewachsen, niemals. Es würde kentern, dessen war sie ganz sicher.
»Du wolltest doch zu Marold, oder etwa nicht?«, rief er ihr zu und sprang bereits in die kleine hölzerne Nussschale, die gefährlich schaukelte. Er reichte ihr die Hand. »Nun komm schon, Esther, du hattest dir doch gewünscht, noch einmal mit mir zu fahren. Weißt du noch?«
»Gewiss, aber doch sicher nicht bei diesem Sturm!«
»Jetzt oder nie. Nun los doch, oder willst du warten, bis der Kerl auch mit an Bord springt?«
Das wollte sie auf keinen Fall. Sie raffte ihr Kleid noch höher und machte einen beherzten Satz. Das Boot bäumte sich auf. Es hüpfte und schlingerte, als ob es gleich an Ort und Stelle untergehen wollte.
Esther kauerte sich auf das einfache Holzbrett, auf dem sie auch bei ihrer kleinen Fahrt gesessen hatte. Wie glücklich sie damals gewesen war. Vitus nahm, nachdem er die Leine gelöst und das Boot vom Ufer abgestoßen hatte, auf dem zweiten Brett Platz und griff nach den Rudern. Der Wind zerrte an Esthers Haube und biss ihr in die Wangen. Als sie am Morgen das Haus verlassen hatten, war es ihr gar nicht so kalt vorgekommen. Aber wahrscheinlich waren die Böen zwischen den Häusern auch weniger spürbar gewesen als hier draußen. Sie erinnerte sich an Menschen, die sie auf dem Weg ins Skriptorium gesehen hatte, begriff jetzt aber, dass sie längst nicht alles, was um sie herum gewesen war, wahrgenommen hatte. Sie war viel zu angespannt gewesen. Keine zwei Stunden waren seitdem vergangen. Und doch war ihre Welt nicht mehr die gleiche. Reinhardt war tot, sie auf der Flucht. Wie sollte das je gut ausgehen? Sie konnte sich keine Antwort auf diese bange Frage geben.
»Keinen Moment zu früh«, raunte Vitus, als die Strömung das kleine Boot ergriff und geschwind in Richtung Mühlenbrücke trieb. Am Ufer stand die schwarze Gestalt wie erstarrt. Mit kräftigen Schlägen klatschten die Ruder ins aufgewühlte dunkelgraue Wasser. Vitus und der strenge Ost arbeiteten perfekt zusammen.
»Den sind wir fürs Erste los«, rief sie laut gegen den Wind an. »Und was tun wir jetzt?«
»Du wolltest doch zu Marold. Wir rudern bis zur Wassermühle. Von dort sind es nur wenige Schritte bis zum Dom und seinem Kontor.«
»Hast du vergessen, dass er mit Felding fortgegangen ist? Was ist, wenn die beiden noch immer zusammenstecken?«
»Dann stellen wir Felding zur Rede und verraten Marold dessen düstere Pläne.«
»Die kennen wir doch noch nicht einmal alle. Du hast vorhin selbst gesagt, du weißt nicht, wer in dieser Posse auf welcher Seite steht, wer mit wem unter einer Decke steckt oder welche Interessen hat. Wir könnten nichts anderes als wirres Zeug reden. Stellt der Domherr uns Fragen, können wir sie nicht beantworten. Felding dagegen weiß auf alles eine kluge Antwort zu geben, darauf ist Verlass.« Sie klammerte sich an dem grob behauenen Brett fest und hoffte, dass sie sich keine Splitter in die Finger riss. »Wir brauchen Zeit, Vitus. Wir müssen einen Plan erdenken.«
»Also wohin dann? Bis zu meinem Haus ist es ein gutes Stück, und wir müssten direkt am Dom vorbei, wenn wir keinen Umweg machen wollen. Aber wir können es schaffen, denke ich. Wenigstens weiß der Kerl nicht, wo ich lebe. Er wird uns also kaum abfangen.«
»Du denkst, das weiß er nicht?
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