Die unsichtbare Handschrift
Augen.
»Aber dann wäre das doch ein guter Einfall, oder nicht? Gut für Lübeck und seine Bürger.«
»Es ist Betrug, Esther, es ist Betrug.«
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Sankt Augustin bei Bonn im März 2011 – Christa Bauer
E s hatte Christa Bauer viel Überredungskunst abverlangt, sich eingehend mit einem einzelnen Pergament beschäftigen zu dürfen, obwohl die Bergungsarbeiten an der Einsturzstelle des Kölner Stadtarchivs noch nicht abgeschlossen waren. Immerhin musste man zunächst einen Überblick erhalten, sortieren und erfassen, bevor man sich daranmachen konnte, die unzähligen Fundstücke wieder möglichst originalgetreu zu restaurieren. Auf zwanzig Orte in ganz Deutschland hatte man die geborgenen Bestände verteilen müssen. An einigen Orten könne überhaupt erst in etwa zwei Jahren mit der Erfassung begonnen werden, hieß es. Christa wollte nicht so lange warten. Sie wusste natürlich, dass Zeitdruck und Eile nicht angebracht waren, wenn man das Material retten wollte. Allein zwei Wochen dauerte es, bis einer einzigen Ladung im Vakuumgefriertrockner, den sie liebevoll Vaku-Froster nannte, schonend die Feuchtigkeit entzogen wurde. Zwei Wochen! Sie durfte gar nicht daran denken, wie viel Zeit vergangen sein würde, bis alle Stücke, die im Wasser gelegen hatten, ihren Weg in den Vaku-Froster und wieder heraus gefunden hatten. Außerdem mangelte es an Fachpersonal. Einige Restauratoren hatten nach der größten Archiv-Katastrophe, die es in Friedenszeiten je gegeben hatte, einen Arbeitsplatz gefunden. Und es halfen noch immer andere Archive und Freiwillige dabei, die gigantische Aufgabe zu lösen. Doch überall kehrte zwei Jahre nach dem Unglück auch der Alltag wieder ein. In allen Institutionen musste auch die eigene Arbeit weitergehen. So würden einige bedeutende papierne Zeugen längst vergangener Tage noch jahrelang in Folie verpackt in Regalen liegen und darauf warten, dass jemand ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte.
Sie zog die feinen Baumwollhandschuhe über und ließ das Pergament, das sie im Januar von Schlamm und Dreck befreit hatte, behutsam aus seiner Hülle gleiten. Gleich nachdem sie das Prachtstück entdeckt und die mittelhochdeutschen Worte für Lübeck und Betrug gelesen hatte, war sie zur Leiterin des Kölner Stadtarchivs gegangen, hatte von ihrem Fund berichtet und darum gebeten, den Bogen selbst untersuchen und wieder instand setzen zu dürfen. Zunächst war diese wenig begeistert von dem Anliegen gewesen. Doch Christa war hartnäckig.
»Jedem ist bekannt, dass Sie wegen der immens hohen Kosten, die das gesamte Unternehmen verschlingt, unter Beschuss stehen. Nicht alle Politiker oder Journalisten erkennen den Wert jahrhundertealter Folianten oder Verträge. Mit Argumenten allein werden Sie die nicht mehr lange in Schach halten können«, hatte sie freiheraus gesagt. »Wie viele laufende Meter Archivgut wo untergebracht werden konnten, beeindruckt die Herrschaften kaum. Wenn Sie denen auch noch erzählen, dass die noch zu leistende Arbeit über sechstausend Mannjahre dauern wird, fühlen sie sich eher in ihrer Meinung bestätigt. Dann sehen sie nur noch eine Kostenexplosion vor sich und verweisen auf den ohnehin schon gebeutelten Haushalt der Stadt.« Sie hatte ihre Worte kurz wirken lassen, dann hatte sie vertraulich gesagt: »Die stellen sich das so einfach vor – das Wichtigste heraussuchen, in Ordnung bringen und ab damit ins Regal. Dumm nur, dass es nicht so einfach ist.« Es folgte eine weitere Kunstpause, dann hatte sie ihre kleine Ansprache wirkungsvoll beendet: »Wir beide wissen das. Und ich meine, wenn wir ein einziges Exponat von Wert kurzfristig restaurieren und der Öffentlichkeit präsentieren können, dann begreifen auch die Skeptiker, dass sich unsere Arbeit lohnt.«
Damit hatte Christa sie gehabt. Hinzu kam, dass es sich nicht um irgendein Dokument handelte, sondern um eines, das mit ihrer Heimatstadt Lübeck zu tun hatte und offenbar aus dem 12 . bis 14 . Jahrhundert stammte. Das hatte es wohl noch schwerer gemacht, ihr die Bitte abzuschlagen.
Sie war nach Lübeck zurückgefahren, hatte eine Veranstaltung durchgeführt und versucht sich auf ihren Alltag zu konzentrieren. Mit den Gedanken aber war sie ständig bei dem Pergament gewesen, das währenddessen im Vaku-Froster von gefährlicher Feuchtigkeit befreit wurde. Nun lag es endlich vor ihr im Zwischenarchiv des Bundesarchivs in Sankt Augustin bei Bonn, wo viele Stücke vorübergehend eine neue Bleibe gefunden
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