Die unsichtbare Handschrift
stark vom Bauschutt abgerieben worden war, dass sie sich auf Anhieb nicht entschlüsseln ließ. Gedankenverloren klopfte Christa sich mit dem Ende des Bleistifts auf die Nasenwurzel.
»Geht es voran?«
Sie erschrak und hätte beinahe den Stift auf das kostbare Schriftstück fallen lassen.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte Carsten Matthei. Das Gesicht des leitenden Mitarbeiters der Restaurationsabteilung drückte kein Bedauern aus. Die weiblichen Kollegen bekamen weiche Knie und wurden albern, wenn er auftauchte. Auf Christa wirkte er abstoßend arrogant mit seinen heruntergezogenen Mundwinkeln und der Andeutung eines Lächelns.
»Die Rekonstruktion des Pergaments ist so weit abgeschlossen«, beantwortete sie seine Frage. »Ich bin jetzt dabei, die Worte zu entschlüsseln, um Fehlstellen auffüllen zu können. Dazu muss ich allerdings noch die exakte Zusammensetzung der Tinte untersuchen. Ich will sicher sein, die vollkommen gleiche Mischung für die fehlenden Buchstaben zu verwenden.«
»Sie haben natürlich erkannt, dass es sich um ein Palimpsest handelt?«
Da war es wieder, dieses überhebliche Grinsen, das sie nicht ausstehen konnte. Wofür hielt er sie, für eine Anfängerin, eine Amateurin? Beinahe am ersten Tag, an dem sie den Fund in Sankt Augustin zur Hand hatte nehmen dürfen, war ihr klar gewesen, dass das Pergament schon früher einmal beschrieben gewesen war.
»Selbstverständlich. Ein Vermächtnis wurde im 13 . Jahrhundert höchst selten auf neues Pergament geschrieben, dazu war der Beschreibstoff viel zu kostbar, wie jeder weiß, der sich auch nur ein wenig mit dem Thema befasst.« Sie gab sich keine Mühe, ihn anzulächeln. Stattdessen blickte sie ihn von oben herab an. Was der konnte, brachte sie schon lange zustande.
»Ganz richtig, Frau Kollegin, das weiß jeder. So wie jedem klar ist, dass die Worte, die zuvor auf dem Pergament gestanden haben und abgewaschen oder abgeschabt worden sind, noch älter sind als dieses unbedeutende Vermächtnis.«
»Moment mal«, unterbrach sie ihn in seinem Vortrag. »Nur weil etwas älter ist, ist es nicht automatisch von größerer Bedeutung, Herr Kollege.« Sie hatte die beiden letzten Worte stärker betont, als sie beabsichtigt hatte. Die Verärgerung war ihm vom Gesicht abzulesen. Trotzdem sprach sie weiter: »Im Gegenteil. Wir können davon ausgehen, dass der ältere Text nicht von Belang für die Zukunft war. Nur deshalb hat man ihn entfernt, um den Bogen Pergament erneut verwenden zu können.«
Ein übertriebener Seufzer sollte ihr wohl zeigen, dass es ihn ermüdete, ihr bestimmte Dinge erklären zu müssen.
»Aus damaliger Sicht war der Text vielleicht nicht mehr von Belang. Heute kann die Einschätzung eines Historikers ganz anders ausfallen. Das sollten Sie wissen.« Sie wollte darauf etwas entgegnen, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich möchte, dass Sie den Fund unter die Quarzlampe legen. Sollte sich herausstellen, dass der alte Text von größerer Bedeutung ist als das einfache Vermächtnis, werden Sie schön die Finger von der Tinte lassen.«
»Noch wissen wir doch gar nicht, ob es sich bei dem Fundstück P 52 nur um ein einfaches Vermächtnis handelt. Es ist doch viel praktischer, wenn ich erst den Text fertig entziffere, um dann zu entscheiden, was weiter geschehen soll.«
Matthei verzog missbilligend die Lippen. »Sollten Sie herausfinden, dass der Kölner Dom den Lübeckern vererbt wurde und nun abgetragen und in Ihrer Hansestadt wieder aufgebaut werden muss, dürfen Sie die Handschrift gerne vervollständigen. Handelt es sich um einen weniger spektakulären Inhalt, will ich eine UV -Fotografie, damit wir mit Hilfe einer digitalen Bearbeitung den älteren Text rekonstruieren können.« Sein Ton duldete keinen Widerspruch, und der Mann besaß auch nicht genug Höflichkeit, um sich eine Erwiderung anzuhören. Er kehrte ihr den Rücken und verschwand so leise, wie er aufgetaucht war.
Sie war noch immer verärgert über das ungehobelte Auftreten dieses Matthei. Wie konnte man nur so ignorant sein? Üblicherweise war in einem Testament kaum von Betrug die Rede. So gewöhnlich schien P 52 also nicht zu sein. Sie beeilte sich, dem Stück sein Geheimnis zu entlocken, allein schon, um diesem grässlichen Kerl einen spektakulären Inhalt präsentieren zu können.
»Um mein Seelenheil zu retten, gestehe ich … einen Mann getötet habe.«
Christa pfiff durch die Zähne. »Das wird ja immer schöner«,
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