Die unsichtbare Handschrift
schwieg einen Moment, dann erzählte sie weiter: »Ich war beinahe schon auf dem Heimweg, da habe ich Domherr Marold entdeckt.« Sie berichtete von ihrer Idee, auch ihm Kaspars Dienste anzubieten, und von dem Mann, der dann aufgetaucht war. »Es war ziemlich verwirrend, weißt du? Sie sprachen über die Abschrift einer Urkunde, die zum Kaiser gebracht werden soll.«
»Das ist nur für ein hübsches Frauenzimmer wie dich verwirrend.«
Esther zog eine Schnute. Sie konnte es nicht leiden, wenn er sie wie ein törichtes Kind behandelte. Aber er hatte ja, wie sie zugeben musste, recht. Als Frau kümmerte sie sich nicht um den Kaiser, den Rat der Stadt oder derlei Dinge. Das war nun einmal nicht ihre Aufgabe, und wenn sie etwas hörte, erschien es ihr meist sehr kompliziert.
»Der damalige Kaiser Barbarossa hat Lübeck eine Urkunde ausgestellt, die der Stadt nicht unerhebliche Freiheiten und Rechte zusichert. Nachdem aber der dänische König Waldemar gefangen genommen wurde und man seine Leute fortgejagt hat, müssen wir fürchten, dass Graf Adolf IV . seine gierigen Finger nach Lübeck reckt. Die Schauenburger haben lange genug das Stadtrecht ausgeübt, und es war nicht zum Besten der Stadt und ihrer Bürger.« Vitus strich sich durch das schwarze Haar. »Albrecht von Orlamünde ist ebenfalls noch immer festgesetzt. Wer also sollte dem Schauenburger noch im Wege stehen? Er hat die besten Rechte. Seit Waldemar fort ist, sind wir gewissermaßen herrenlos. Er kann nach uns greifen und uns zu seinem Eigentum machen.« Esther sah ihn mit großen Augen an. »Du weißt nicht, was das bedeutet«, sagte er, stand auf und ging in dem kleinen dunklen Raum hin und her. »Der Schauenburger könnte mit uns anstellen, was immer ihm beliebt. Er könnte Lübeck gar verpfänden oder verkaufen, wenn das seinen Machtplänen nützen würde. Nicht wenige Städte hat ein solches Schicksal ereilt. Würde Kaiser Friedrich II . unsere Freiheiten und Rechte jedoch bestätigen, schriftlich bestätigen, wäre uns schon ein gutes Stück geholfen. Das würde es dem Schauenburger ein wenig schwerer machen. Nur hielte ihn eine solche Bestätigung allein nicht für alle Zeiten davon ab, sich weiter der Stadt bemächtigen zu wollen.«
Esther dachte eine Weile nach und versuchte das Gehörte zu begreifen.
»Und wenn man manche Formulierung des Kaisers Barbarossa ändert, den einen oder anderen Satz hinzufügt, bevor man Friedrich die Urkunde vorlegt, so ist das dem Fortschritt, der Veränderung, die Lübeck in den letzten dreißig Jahren erlebt hat, geschuldet, ja? Das würde dann auch den Schauenburger in seine Grenzen weisen?«
Vitus hatte sich gerade wieder setzen wollen, wirbelte nun aber zu ihr herum und starrte sie an. »Was sagst du da?«
Sie erschrak. Gerade noch hatte sie gehofft, dass ihr Gefühl sie betrogen hatte, dass das, was sie gehört hatte, keinen Anlass zur Sorge darstellte. Seine Reaktion zeigte ihr, dass dies nicht stimmte. Es gab Anlass zu größter Sorge.
»Es ging darum, dem Kaiser weitere Rechte abzuringen«, stammelte sie.
»Und wie will man das anstellen?«, fragte er atemlos.
»Ich weiß nicht, ich bin nicht sicher …«
Er packte ihre Schultern. »Esther, du musst es mir sagen!«
»Nun, wenn ich die Männer richtig verstanden habe, dann will der Rat das Stadtrecht ergänzen und entwickeln. Ja, so hat sich der Kerl mit dem schwarzen Mantel ausgedrückt. Die Urkunde soll ergänzt und ein wenig verändert werden, bevor man sie dem Kaiser zur erneuten Unterzeichnung vorlegt.«
Vitus war blass geworden. »Das wäre ja Betrug«, flüsterte er.
»Aber nein!«, rief sie voller Angst. Sie hatte es die ganze Zeit geahnt, aber nicht wahrhaben wollen. »Nein, sie sagten, der Kaiser könne das Dokument ja lesen und streichen, was ihm nicht recht sei, bevor er sein Siegel daruntersetzt.«
»Das kann er. Wird man ihn aber glauben machen, es handle sich um eine exakte Abschrift der Urkunde, die sein Großvater Kaiser Friedrich Barbarossa in ebendieser Form ausgestellt und unterzeichnet hat, so wird er seinem Vorfahr gewiss Vertrauen schenken und ihn bestätigen. Würde man festlegen, dass Lübeck untrennbar zum Reichsbesitz gehört, was so nicht in den Barbarossa-Privilegien steht, würde man aber die Abschrift in dieser Weise ergänzen, dann wäre die Stadt wirklich frei und unabhängig. Dagegen hätte selbst der Schauenburger keine Handhabe.« Er hielt noch immer ihre Schultern umfasst und sah ihr nun direkt in die
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