Die unsichtbare Handschrift
flüsterte sie zufrieden. Das Wort
Betrug
stand beinahe alleine. Erneut fehlte eine große Passage. Der letzte Absatz dagegen war wieder besser zu entziffern.
»Und ich bezeuge vor Gott und der Welt, dass … Lübecker Reichsfreiheitsbrief … Kaiser Friedrich II. ausgestellt hat, um eine Fälschung handelt aus der Hand von …«
Wort für Wort hatte sie auf ihren Notizblock geschrieben. »Wie bitte?«, fragte sie laut und las noch einmal, was sie soeben notiert hatte. Kein Zweifel, da behauptete einer, dass das Dokument, auf dem Lübecks Freiheit und Eigenständigkeit fußte und das in Teilen bis in das Jahr 1937 gültig gewesen war, Betrug, ja, eine Fälschung sein sollte. Selbst heute noch hatten einige damals vom Kaiser verliehene Rechte und vor allem Land- und Seegrenzen Bestand. Ihre Gedanken rasten. Gut, stellte man heute einen Vertrag aus, so hieß es für gewöhnlich, dass auch dann alle Bestimmungen gültig blieben, wenn ein Passus als ungültig erkannt wurde. War das aber vor beinahe sechshundert Jahren auch schon so? Und welche Rechte oder Privilegien waren überhaupt betroffen? Sie konnte es noch immer nicht glauben – die älteste Urkunde städtischer Herkunft ganz Norddeutschlands eine Fälschung! Konnte das sein? Sie spürte den Drang, aufzustehen und sich zu bewegen, weil sie glaubte, die plötzliche Spannung sonst nicht mehr auszuhalten. Außerdem hätte sie jetzt liebend gerne eine Zigarette geraucht. Sie unterdrückte beides und konzentrierte sich noch einmal auf die schwarzen Buchstaben, die teilweise nur noch als Umrisse auf dem durchsichtigen Pergament zu erkennen waren. Wahrscheinlich hatte sie ein Wort falsch gelesen, einen Begriff falsch übersetzt. Sie nahm sich den letzten Absatz noch einmal vor. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab zu den beiden Ausfertigungen des Reichsfreiheitsbriefes, die den Stolz des Lübecker Archivs darstellten.
Als sie fertig war, ließ sie sich gegen die Stuhllehne sinken. Der Bleistift rutschte ihr aus den Fingern, fiel auf den Schreibblock und rollte von dort mit leisem hohlem Ton über die Tischplatte. Sie schüttelte langsam den Kopf. Kein Zweifel, die Privilegien, Rechte und Freiheiten, auf die die Stadt seit 1226 pochte, waren eine Lüge. Oder zumindest ein Teil davon.
»Da hast du deinen spektakulären Inhalt«, flüsterte sie. »Das ist viel mehr als das. Das ist eine Sensation!«
Plötzlich hatte sie Angst, irgendjemand könnte ihr ihre Entdeckung wegnehmen, bevor sie herausgefunden hatte, wem der Kölner Kaufmann ein derartig stolzes Sümmchen vermacht hatte, und vor allem, aus wessen Hand die ungeheuerliche Fälschung stammte.
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Plöner Bischofsberg im März 1226 – Heilwig von der Lippe
A dolf schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass dieser bebte. Heilwig nahm ihre Tochter Mechthild, die erschrocken zusammengefahren war und zu weinen begonnen hatte, auf den Arm und übergab sie an die Amme mit den üppigen Brüsten, die sogleich gelaufen kam. Ein Feuer brannte im offenen Kamin, und auch die unzähligen Lichter ringsherum an den Wänden waren entzündet. Dennoch war es kalt in der Burg. Adolf schien das nicht zu bemerken.
»Mein Großvater hat dieses verdammte Lübeck gegründet, nachdem die jämmerliche Siedlung, die dort stand, abgebrannt ist. Und mein Vater hat Hamburg gegründet.« Sie wollte etwas sagen, ihn bitten, sich zu beruhigen, doch er tönte bereits mit donnernder Stimme: »Die Brauerei der Hanse! Sie habe ich von den Dänen zurückgeholt, Waldemar habe ich besiegt, und sein Lakai Albrecht von Orlamünde sitzt hinter Schloss und Riegel.« Er wurde noch lauter. »Alles könnte gut sein!«
Adolf lief in dem Saal auf und ab. Der Mann, den Heilwig nicht kannte und der bei ihrem Gatten vorgesprochen und die schlechte Nachricht gebracht hatte, stand mit gesenktem Kopf vor dem hohen Stuhl, von dem Adolf soeben aufgesprungen war, bevor er begonnen hatte, auf Tische einzuschlagen, Leuchter umzustoßen und die Hunde zu treten, die sich jaulend davonmachten. Die Bediensteten waren vollauf beschäftigt, Flammen zu löschen, bevor sich ein Brand entfachte, und Möbel wieder zu richten.
»Ich war so kurz davor, mir zurückzuholen, was mir zusteht, was dem Schauenburger Geschlecht von jeher zusteht. Glauben diese verdammten Lübecker, sie können mir eine Nase drehen? Denen werde ich schön die Suppe versalzen.« Noch einmal ließ er die Faust auf den großen Eichentisch krachen, der mitten im Raum stand, dann drehte er auf
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