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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Johannson
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hatten. Christa hatte keine Ahnung, ob ihr noch etwas von ihrem Jahresurlaub übrig bleiben würde, wenn sie hiermit fertig war, doch das scherte sie nicht. Sie wollte diesem Blatt, das dort in erbärmlichem Zustand vor ihr lag, zu altem Glanz verhelfen. Und noch wichtiger, sie wollte sein Geheimnis ergründen.
    »Du meine Güte«, flüsterte sie. »Sieh dir nur an, was dir zugestoßen ist.« Ganz verzogen und wellig lag das Dokument vor ihr, von dem sie noch nicht den Verfasser kannte. Auf die zwei Wochen im Vaku-Froster waren einige Tage gefolgt, in denen man ihm kontrolliert wieder Feuchtigkeit zugefügt hatte. Zwar war die Gefriertrocknung eine unverzichtbare Rettungsaktion, die Schimmel verhinderte, der wiederum Faserabbau nach sich ziehen würde, doch war sie gleichzeitig auch ein brutaler Vorgang. Immerhin handelte es sich um organisches Material, und das brauchte nun einmal einen bestimmten Feuchtigkeitsanteil, um flexibel zu bleiben.
    Risse und ein großes Loch würden ihr einiges an Arbeit bescheren, die fehlende Ecke war dagegen noch ein geringes Übel. Sie griff nach der Plastikflasche mit dem Reinigungspuder und streute etwas davon auf den Bogen. Ganz sanft rieb sie ihn mit kreisenden Bewegungen ab. Es gab nichts Besseres, um Pergament von festgesetztem Schmutz zu säubern, ohne die dreidimensionale Oberfläche zu beschädigen. Dann drehte sie ihr Fundstück um und wiederholte den Vorgang auf der anderen Seite. Zum Schluss bürstete sie mit einem Rasierpinsel den verbliebenen Staub sorgfältig ab. Als erste Reparaturarbeit nahm sie sich die Risse vor. Sie hatte sich entschieden, diese nicht zu hinterkleben, sondern zu nähen, um mit möglichst wenig artfremdem Material auszukommen. Nähte hatten außerdem den unschlagbaren Vorteil, sich hervorragend anzupassen. Dehnte der Bogen sich aus oder zog sich zusammen, was schon bei kleinsten Klimaveränderungen unweigerlich geschehen würde, machte eine Naht das mit. Klebte sie dagegen Pergamentstreifen auf die Rückseite, um einen Riss zu schließen, wäre eine Faltenbildung im Lauf der Zeit unvermeidlich. Das wiederum bedeutete eine starke Belastung für das alte Dokument.
    Am Morgen hatte sie bereits einige hauchfeine Streifen Kalbspergament vorbereitet, die ihr nun als Fäden dienen würden. Sie schnitt den ersten an einer Seite spitz zu und zog ihn durch die Öse der Nadel. Ein letzter tiefer Atemzug, bevor sie es wagte, in die vor Hunderten Jahren getrocknete und beschriebene Tierhaut zu stechen. Sie kam sich dabei vor wie eine Chirurgin in einem Operationssaal.
     
    Die nächsten Tage brachte sie damit zu, die Enden der Fäden aufzuleimen und die Nähte sehr fein zu schmirgeln. Das Loch musste sie hinterkleben, hier blieb ihr keine Wahl. Mit einem Skalpell spaltete sie den Flicken aus Kalbspergament, damit er schön dünn war. Den Leim hatte sie selbstverständlich nach altem Rezept eigens hergestellt. Der Bogen wurde zwischen Kartonecken gelegt, so dass er sich nicht verziehen konnte, und mit in Samt eingewickelten Steinen beschwert, bis der Leim vollständig getrocknet war. Auch die Übergänge hatte sie so lange sanft zu schleifen, bis sie kaum noch spürbar waren. Erst der letzte Arbeitsgang war dem Inhalt des mittelalterlichen Dokuments gewidmet, der Ergänzung der fehlenden Schrift. Schon während der Zwangspausen, die immer wieder auftraten, wenn etwas trocknen oder ruhen musste, hatte sie freilich damit begonnen, die Worte zu entziffern. Sie fand heraus, dass es sich bei dem Stück um das Vermächtnis eines Kölner Englandhändlers handelte. Das Vermächtnis datierte auf das Jahr 1231 . In dieser Zeit gab es nicht wenige Fernhändler aus Köln, die sich in Lübeck für einige Wochen oder Monate des Jahres niederließen, um ihre Geschäfte, wie etwa den Handel mit den Engländern, von dort abzuwickeln.
    »Hiermit vermache ich der Lübecker Bürgerin …«,
kritzelte Christa mit Bleistift auf ihren Notizblock, nachdem sie die ersten Worte aus dem Mittelhochdeutschen übertragen hatte. Der Name, der dann offenbar folgte, war kaum zu lesen. Sie malte ein Fragezeichen auf ihren Zettel.
»Dreihundert Mark Silber«,
las sie weiter und murmelte beeindruckt: »Ein schöner Batzen Geld.«
    »Um in den Genuss dieses beträchtlichen Anteils meines Vermögens …«
Die nächsten Buchstaben waren wiederum unleserlich, doch sie ergänzte aus den Fragmenten, die noch vorhanden waren:
»zu gelangen …«
Es folgte beinahe eine ganze Zeile, deren Oberfläche so

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