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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Johannson
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wehmütig. Wie gut musste es jemandem gehen, der so einen herrlichen Bogen einfach nur so verwendete, ihn niemals einem Empfänger zukommen ließ. Sie malte sich aus, wie Marold, nachdem er bereits seine Unterschrift unter das Geschriebene gesetzt hatte, bemerkte, dass ihm etwas entfallen war. Vielleicht hatte er ohne weiteres Nachdenken einen zweiten Bogen ergriffen und den Brief erneut aufgesetzt, dieses Mal natürlich mit dem zuvor vergessenen Satz.
    Mit einem Mal stieg Esther Hitze in den Kopf. Sie blickte gebannt auf die Buchstaben, die ihr schwarz entgegenstarrten. In diesem Augenblick wusste sie, dass ihr Fund sehr wohl von Bedeutung war. Er war ein Wink des Himmels. Sie war womöglich auserwählt, in das Schicksal der Stadt Lübeck, nun, zumindest in das einiger Kaufleute, einzugreifen. Es war kein Zufall, dass ausgerechnet sie, eine Frau, die lesen und schreiben konnte, diesen kleinen Zettel von der staubigen Straße aufgesammelt hatte. Hatte sie nicht eben noch zu Vitus gesagt: »Natürlich müsste ich zuvor etwas von ihm Geschriebenes haben, damit ich den Schwung seiner Buchstaben üben könnte.« Nun hatte sie es. Sie war dazu bestimmt, die Abschrift der Urkunde zu verfassen, die Vitus von seinen Sorgen befreien und sie selbst bald zu seinem Eheweib machen würde. Es konnte nicht anders sein, und es war ganz einfach, sie musste nur üben, die Buchstaben ganz genau so zu schreiben, wie man es von Marold kannte. Sie musste ihn so exakt, so glänzend kopieren, dass er selbst ihr Schreiben nicht von dem seinen unterscheiden konnte. In ihrer Hand hielt sie die Vorlage, die es ihr ermöglichte, sich darin zu üben. Und genau das würde sie tun.
     
    Eine bisher kaum gekannte Aufregung hatte Besitz von ihr ergriffen. Sie stürmte die schmale Holzstiege hinauf in ihre Kammer und kramte die Wachstafel hervor, die Kaspar ihr gemacht hatte, als sie noch ein Kind gewesen war. Es war ein einfaches Exemplar. Er hatte damals ein rohes Holzbrett genommen und mit Hammer und Messer Späne und Stücke herausgeschlagen, bis eine viereckige Vertiefung entstanden war. Dann hatte er über dem Feuer eine Mischung aus Ruß, Harz und Wachs angerührt, in die Vertiefung gegossen und mehr schlecht als recht glatt gestrichen. Zum Schluss hatte er noch die Ränder ein wenig geschmirgelt, damit sie sich keinen Splitter in die zarten Finger riss. Fertig war ihre eigene Wachstafel gewesen, auf die sie sehr stolz gewesen war. Darauf hatte sie mit einem Griffel, den er ihr aus einem Rinderknochen geschnitzt hatte, ihre ersten Buchstaben geübt. Unermüdlich hatte sie sich mit der Karolingischen Minuskel vertraut gemacht, mit den runden Formen und breiten Strichen, die die kleinen Buchstaben so gut lesbar machten. Zuerst hatte sie sich noch vier Hilfslinien ziehen müssen, um Ober- und Unterlängen gleichmäßig zu treffen. Irgendwann konnte sie jedoch auf jegliche Linien verzichten. Immer wieder strich sie die Wachsmasse glatt, wenn sie von oben bis unten Buchstaben hineingeritzt hatte, und begann von neuem. Nachdem ihr die gebräuchliche Schrift des Alltags und der Buchkunst gut von der Hand ging, übte sie auch Großbuchstaben, die zu Beginn eines Absatzes oder Kapitels als Initiale gern reich verziert wurden. Auch darin entwickelte sie eine ordentliche Geschicklichkeit, so weit es mit einem Griffel in einer etwas klumpigen Masse eben möglich war, auf deren Grund man immer wieder im grob behauenen Holz landete. Nach einigen Jahren hatte sie Holzleisten mit Knochenleim auf den Rand der Tafel geklebt, selbst Wachs mit Harz und Pigmenten angerührt und in die neu entstandene Vertiefung gegossen. Damit war die Masse dicker und ließ sich besser einritzen und wieder glätten. Manchmal fielen Esther fromme Reime ein, die sie auf ihrer Tafel notierte, um nicht aus der Übung zu kommen. Doch wann immer sie ihr Schreibwerkzeug hervorholte, zeterte Kaspar, dass sie sie noch beide in Teufels Küche bringe, wenn jemand erfahre, dass sie, eine Frau, des Schreibens mächtig sei.
    »Ich hätte dir nie zeigen dürfen, wie es geht«, jammerte er dann. »Es wird schon seinen Grund haben, dass Gott nicht will, dass Frauen lesen und schreiben können.«
    »Wenn Gott es nicht will, warum erlaubt er es dann ausgerechnet seinen Nonnen?«, hatte sie ihn gefragt.
    »Das sind keine Frauen. Jedenfalls keine richtigen«, war seine Antwort gewesen.
    Sie einigten sich darauf, dass Esther nur beim Licht eines Kienspans reimte oder Texte las. Dann bestand keine

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