Die unsichtbare Handschrift
Gefahr, entdeckt zu werden.
Sie machte auch heute keine Ausnahme, sondern blieb in ihrer fensterlosen Kammer, obwohl sie es unten am Tisch bedeutend bequemer hätte. Nein, bei diesem Vorhaben konnte sie sich schon gar keine Zuschauer leisten. Was am Abend zuvor noch ein frommer Wunsch, ein schöner Traum, ein Scherz gewesen war, wurde nun zur ernsten Wahrheit. Esther sagte sich, dass sie noch nichts Verbotenes getan hatte. Noch konnte sie jederzeit aufhören und den Plan, der streng genommen noch keiner war, aufgeben. Sie würde nur probieren, ob es ihr gelänge, die Schrift des Domherrn Marold zu kopieren. Sie betrachtete die Buchstaben auf dem Papier eingehend. Es fiel sofort auf, dass er die Feder nach dem neuen Stil führte. Die Buchstaben waren hoch, dafür schlank, ihre kräftigen Schäfte waren oben und unten abgeknickt, äußerst feine Linien verbanden die Schäfte eines Buchstabens miteinander. Ecken und Winkel waren akkurat gezeichnet und erinnerten sie an die exakten Formen, die sie bei dem entstehenden Dom so bewunderte. Auch Marolds Groß- und Kleinbuchstaben sahen aus wie stolze und äußerst stabile Bauwerke. Sie strahlten eine solche Erhabenheit aus, dass sie zögerte, sich an ihrem Schwung zu versuchen. Esther atmete tief durch und setzte den Griffel im spitzen Winkel zur Wachsmasse an. So konnte sie einen breiten Strich ritzen, den ersten Schaft des großen M. Für die feinen Verbindungslinien setzte sie den Griffel nahezu senkrecht auf das Wachs, so dass sich nur die Spitze in das weiche Material bohrte. Sie stellte fest, dass sein »a« nicht gerade war, sondern stark nach rechts kippte. Das galt nicht nur für seinen Namen, auch in dem Wort »Senator« neigte sich der kleine Buchstabe gut sichtbar nach rechts. Es schien sich um eine Angewohnheit von Marold zu handeln, die sie sich zu eigen machen musste. Die Oberlänge beim kleinen »d« wölbte sich jedes Mal wie ein kleiner Halbmond. Auch das war sowohl in seinem Namen als auch in den Wörtern »dreizehnten« und »Stunde« zu erkennen. Der Kienspan in der Halterung war längst heruntergebrannt, und sie hatte einen weiteren entzündet. Jedes einzelne Zeichen auf dem Papier studierte sie aufmerksam und machte es nach, wieder und wieder. Sie bemerkte kaum, wie die Zeit darüber verstrich. Als sie das Klappen der Tür hörte, schreckte sie auf.
»Esther?«
»Ich bin hier oben.«
»Was tust du um diese Zeit in deiner Kammer?«, rief Kaspar hinauf. »Du bist doch nicht krank?«
»Nein, ich komme schon hinunter«, antwortete sie hastig, glättete das Wachs ein letztes Mal, schob Tafel und Griffel zwischen ihre Wäsche und beeilte sich, die Treppe hinabzulaufen.
»Geht es dir gut?«, wollte Kaspar besorgt wissen, musterte sie neugierig und sog die Oberlippe nach innen.
»Ja, mir geht es gut.« Sie legte Reisig in die Glut, das sogleich aufloderte.
»Warum duftet es dann noch nicht nach meinem Abendessen?«, fragte er.
»Entschuldige, ich kümmere mich gleich darum.«
Seine sommersprossige Stirn legte sich in Falten. Er hatte keinen Tag ohne seine Schwester verbracht, seit diese auf der Welt war. Wahrscheinlich kannte er sie besser als sich selbst.
»Irgendetwas stimmt mit dir nicht«, meinte er und ließ sie nicht aus den Augen.
Sie lächelte. »Aber das ist doch Unsinn. Ich habe nur die Zeit vergessen, das ist alles.«
»Wobei?«
»Bei allem Möglichen«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Du weißt schon, was Frauen eben den lieben langen Tag tun«, plauderte sie weiter und hängte den Kessel mit dem Eintopf über das Feuer. Bevor er erneut nachfragen konnte, wollte sie von ihm wissen, wie es ihm auf der Baustelle ergangen sei.
»Dieser Gebhardt ist ein wahrer Sklaventreiber«, beklagte er sich sogleich. »Mir tun sämtliche Knochen weh. Will ich den Kopf zur linken Seite drehen, so schießt der Schmerz den ganzen Rücken hinunter, als würde mich jemand hinterrücks mit einem Messer piesacken.«
Sie hatte gar nicht darauf geachtet, doch während sie nun an der Feuerstelle stand und mit dem Holzlöffel im Kessel rührte, spürte auch sie nur allzu deutlich ein Ziehen, das von ihrem Haaransatz im Nacken bis zu ihrem Gesäß reichte.
»Ich weiß, was du meinst«, sagte sie so dahin.
»Tatsächlich? Wie das? Du hast schließlich nicht den ganzen Tag in krummer Haltung über einer Schiefertafel und später über dem Pergament gehockt. Du kannst dir gar nicht vorstellen …«
»Doch«, unterbrach sie ihn, »ich kann es mir vorstellen,
Weitere Kostenlose Bücher