Die unsichtbare Handschrift
Sie hatte schon lange nicht mehr laufen oder wenigstens das Bett verlassen können. So musste es eine Erlösung für sie gewesen sein, als sie endlich ihrem irdischen Dasein Lebewohl sagen konnte. Zu gerne hätte Vitus ihr noch seine Braut präsentiert, zu gerne wäre sie sicher mit dem Wissen gegangen, dass ihr Sohn nun eine Familie gründen und in anständigen Verhältnissen leben würde, doch dies war ihr nicht mehr vergönnt gewesen. Nun war er also allein in dem Haus und konnte Esther nicht zu sich holen, ehe sie verheiratet waren. Ihr Ansehen wäre ruiniert gewesen.
Esther war zusammengefahren, so laut war er geworden. Unglücklich hockte sie auf einem der Stühle mit den hohen Lehnen, die um den Esstisch standen. Sie hatte nicht erwartet, dass er so ungehalten auf ihre Neuigkeiten reagieren würde. Im Grunde hatte sie angenommen, dass er erfreut war, erschrocken, aber auch erfreut.
»Aber du hast doch selbst gesagt, wenn Kaspar Ratsschreiber wäre, dann könnte er einen Passus ganz nach deinem Geschmack einfügen.«
»Nur ist Kaspar kein Ratsschreiber.« Er blieb vor ihr stehen und sah sie mit einem unergründlichen Ausdruck an. »Das war mir in jedem Moment bewusst, als wir über die Pläne des Lübecker Rates sprachen. Verstehst du, es war niemals ernst gemeint, sondern ich habe mir nur ausgemalt, was sein könnte. Aber es wird nie sein, Esther!« Er ging wieder ein paar Schritte und setzte sich dann zu ihr an den Tisch.
»Du sagtest auch, dieser zusätzliche Passus sei keine größere Sünde, als die Ergänzung des Dokuments ohnehin schon ist. Warum also bist du so wütend?«
»Weil es mir gleichgültig ist, ob Marold oder die Ratsmänner sich versündigen, Esther. Es ist mir aber nicht gleich, ob du das tust.« Er sah sie traurig an. »Ich kann doch keine Frau zu meinem Weib nehmen, die in einen Betrug verstrickt ist. Dass du des Schreibens kundig bist, ist schon schlimm genug!«
Sie musste schlucken. Nein, damit hatte sie wahrhaftig nicht gerechnet.
»Es ist ja nur, weil du sagtest, der Plan sei kühn, aber auch genial«, stammelte sie. »Und dass wir dann heiraten könnten, hast du gesagt. Darum habe ich Tag und Nacht geübt. Ich habe angenommen, der Plan gefällt dir.« Sie starrte auf ihre Hände, die ein kleines in Leinen gewickeltes Päckchen hielten.
Vitus rückte seinen Stuhl näher zu dem ihren und legte einen Finger unter ihr Kinn.
»Entschuldige, dass ich so laut geworden bin. Das ist nur geschehen, weil ich mich um dich sorge. Was, wenn jemand dich beim Üben gesehen hätte? Eine Frau, die schreibt, wird bestraft. Daran ist nicht zu rütteln.«
Sie sah ihm in die Augen. Zwar war sein Lächeln wieder sanft, dennoch vermochte das ihre Enttäuschung nicht zu vertreiben.
»Ich habe achtgegeben, dass mich keiner sehen kann. Ich bin nicht dumm«, sagte sie leise und senkte den Blick. Es war nicht zu überhören, wie gekränkt sie war.
Ein Holzscheit knallte im Kamin, die Bretter und Balken des Hauses knackten. Der Schein der Öllampe, die auf dem Tisch stand, ließ sein schwarzes Haar bläulich schimmern. Einige Atemzüge lang sprach keiner von ihnen.
Dann sagte er: »Zeig schon her!«
Überrascht sah sie wieder zu ihm auf.
»Du sagst, du hast Tag und Nacht geübt, also will ich sehen, wie weit du es gebracht hast. Das ist schließlich noch keine Sünde, oder?«
Stumm schüttelte sie den Kopf und wickelte die Wachstafel aus. Darauf stand:
»Und ich befreie die Lübecker Kaufleute, die mit England Handel treiben, von den unanständigen Abgaben, die man sich in Köln und Tiel gegen sie ausgedacht hat. Diese sind unzulässig und werden gestrichen, so dass die Lübecker den Kölner und Tieler Kaufleuten wieder gleichgestellt sind.
Außerdem stimme ich einer baldigen Eheschließung des angesehenen Kaufmanns und Englandfahrers Vitus Alardus mit der braven Tintenmischerin Esther aus Schleswig zu.
Gezeichnet Marold, Notar und Domherr zu Lübeck«
»Das wäre ein Traum, fürwahr.« Er küsste sie sanft auf die Wange. »Und es wäre ja sogar der Kaiser höchstpersönlich, der uns seinen Segen gibt.« Er lachte leise. »Ein schöner Traum, nur wird es leider immer ein Traum bleiben.«
»Niemand würde bemerken, dass es nicht Marold war, der das Schreiben verfasst hat«, erklärte sie eifrig und zog das Stückchen Papier hervor. »Siehst du, dies ist die Schrift des Domherrn. Und nun vergleiche sie mit meiner Schrift!«
Sie betrachtete beides voller Stolz. Das kleine »a« kippte stets ein
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