Die unsichtbare Handschrift
weiter, »das Pergament erneut beschreiben und sich schleunigst aus dem Staub machen.«
»Auf den ersten Blick würde Marold nichts bemerken, das kostbare Schriftstück zusammenrollen und mit einem Siegel verschließen.«
»Es würde nach Italien zu Kaiser Friedrich gelangen, von ihm bestätigt werden, und wir würden heiraten.« Wieder strahlte sie ihn an. Dann wich das Lächeln jedoch nach und nach aus ihrem Gesicht, und sie seufzte traurig. »Nur wer sollte das für uns tun?«
Er strich über ihre Wange. »Tja, wer?« Und dann fügte er hinzu: »Wäre es in der Tat möglich, eine solche Tintenmischung zu kochen?«
»Man müsste bestimmt mindestens ebenso lang probieren, wie ich das Schreiben der Buchstaben geübt habe. Das Schwierige ist, dass die Tinte sich in sehr kurzer Zeit auflösen müsste. Aber möglich wäre es.«
»Wenn Marold also abgelenkt wäre, man das Pergament an sich nähme, dann bliebe einem nicht viel Zeit, bis die Schrift verblasst, richtig?«
Sie nickte.
»Es wäre daher notwendig, die Worte rasch zu kopieren, auf etwas wie deine Wachstafel dort. Dann müsste man sie in Marolds Schrift mit guter Eisen-Gallus-Tinte auf das Pergament übertragen. Auch das müsste sehr flink gehen. Denkst du, auch das wäre möglich?«
»Ich glaube schon. Ja, ich denke, es wäre nicht einfach, aber zu schaffen.«
Er sah sie eindringlich an und ließ seine Finger von ihrem Gesicht über ihren Hals gleiten. »Es ist sehr verlockend«, flüsterte er.
»Ja, das ist es«, hauchte sie.
Vitus atmete tief ein. Seine Hand streifte ihre Schulter, glitt über ihren Arm und blieb auf ihren Fingern liegen, die den Griffel so vortrefflich in Marolds Manier zu führen vermochten.
»Aber es ist auch gefährlich«, erinnerte er mehr sich selbst als sie.
»Ich weiß, ja, das ist es.«
»Gefährlich, aber genial.« Er sprach so leise, dass sie ihn kaum noch verstehen konnte. Den Glanz seiner Augen und die Entschlossenheit, die mit einem Schlag in sein Gesicht traten, verstand sie dafür umso besser.
»Lass es uns tun, Esther«, sagte er feierlich.
»Ja, Vitus, lass es uns tun!«
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Lübeck, 9 . April 1226 – Kaspar
E r ließ sich seinen Becher ein zweites Mal voll schenken. Bisher hatte Malwine, die Tochter des Brauers, noch keine Zeit für ihn gehabt. Oft war er freilich nicht hier in der Schenke, doch wenn er es sich leisten konnte, war es immer das Gleiche. Sie musste sich um die Gäste kümmern, eilte mit Krügen zwischen den Bänken hindurch, machte hier einen Scherz, strich dort die Pfennige ein. Wenn der Nachtwächter draußen auf der Gasse zu rufen begann, trollten sich die ersten, und es wurde von Stunde zu Stunde leerer. Dann kam es vor, dass Malwine sich sogar mal zu jemandem an den Tisch setzte. Zu Kaspar natürlich nicht, das hätte er auch nie zu hoffen gewagt. Nein, sie hockte sich zu denen, die reich genug waren, um regelmäßig in der Schenke ein und aus zu gehen. Sie mussten bei Laune gehalten und besonders freundlich behandelt werden, damit sie auch in Zukunft scheffelweise klingende Münze dort ließen.
Es machte ihm nichts aus, dass sie sich bisher kaum um ihn gekümmert hatte. Ihm reichte es, sich an ihrem Anblick zu erfreuen. Doch würde ihm das auch auf Dauer reichen? Es sei Zeit, ihr den Hof zu machen, hatte Esther gesagt. Warum eigentlich nicht? Nur wie stellte man das an? Wenn sie ihm den Becher reichte oder ihn später mehrfach füllte, lächelte sie ihn stets an. Auch sah sie ihm direkt in die Augen, anstatt, wie es viele Frauen taten, verschämt zu Boden zu blicken. Vielleicht mochte sie ihn ein ganz kleines bisschen. Hatte Esther nicht gesagt, alle Weiber seien scharf auf seine roten Locken? Nun ja, auch ihr Argument, dass er eine gute Stellung als Schreiber für einen Dombaumeister habe, war schließlich nicht von der Hand zu weisen. An seinem Tisch saßen ein Schmied und ein Windenknecht, mit dem er auf der Baustelle schon manches Mal ein Wort gewechselt hatte. Auch am anderen Ende der Bank erkannte er drei Männer, die an der Baustelle des Doms ihr Auskommen hatten. Der Schmied und der Windenknecht unterhielten sich gerade über einen kaputten Sack Salz, der an diesem Tag beinahe zu Handgreiflichkeiten zwischen fünf Weibern geführt hatte.
»Die eine hat die andere an den Haaren gerissen wie eine Furie. Es ist ein Wunder, dass sie nicht kahl zu ihren Männern nach Hause gegangen sind«, erzählte der Schmied. Der andere, der Tag um Tag damit beschäftigt war, das
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